Die verbotene Diskussion vor dem EM-Start: Warum Manuel Neuer immer noch im Tor von Deutschland steht
Es ist der Tag vor dem Eröffnungsspiel dieser EM. Um kurz vor 19 Uhr betritt Julian Nagelsmann das Podium im Bauch des Stadions und spricht zur Lage der Fussball-Nation Deutschland. Wobei er sogleich inne hält: «Geht das nur mir so, oder ist es hier unfassbar unruhig? Das ist ja wie in der Schule früher: Einen Tick leiser, bitte!»
Der Ton von Lehrer Nagelsmann ist also gesetzt. Gut 20 Minuten lang sinniert er über das Heim-Turnier und die Herausforderungen für seine Schüler. Für Deutschland ist die Zeit der Wiedergutmachung angebrochen. Noch hat niemand im Land das Vorrunden-Out bei der WM 2022 vergessen. Und auch nicht, dass die letzten drei Auftaktspiele bei grossen Turnieren verloren gingen (2018 gegen Mexiko, 2021 gegen Frankreich, 2022 gegen Japan).
Warum wird das nun gegen Schottland anders? Nagelsmann sagt: «Ich sehe viel Zuversicht in den Gesichtern der Spieler. Und sehr viel Glauben an uns selbst. Das ist es auch, was ich verlange. Und darum bin ich zuversichtlich.» Ein bisschen nervös sei er aber schon, musste Nagelsmann zugeben, «aber das war ich auch vor jeder Mathe-Schulaufgabe. Da hat es nicht so gut geklappt, ich hoffe, gegen Schottland wird es besser.»
Erst der Weltuntergang, dann die riesige Euphorie
Im Land des EM-Gastgebers geht es gefühlsmässig zuweilen schnell. Von Weltuntergangsstimmung zu grenzenloser Euphorie, Nagelsmann hat das bereits erlebt, obwohl er erst seit Ende September Trainer der Deutschen ist. Nach verlorenen Testspielen gegen die Türkei und Österreich bekam man das Gefühl, die Deutschen würden ihr Nationalteam für die EM am liebsten freiwillig zurückziehen. Im März, als gerade Frankreich und Holland besiegt waren, schien mindestens eine Hand bereits den EM-Pokal zu greifen.
Wo liegt die Wahrheit? Das Spiel gegen Schottland wird noch nicht reichen für eine abschliessende Bewertung. Aber erste Indizien wird es geben. Wobei einer ganz besonders unter Beobachtung steht: Manuel Neuer. 38-jährig ist Deutschlands Torhüter mittlerweile. Noch immer vom Ehrgeiz getrieben wie am ersten Tag. Aber ist er auch immer noch gut genug, um den Deutschen als grosser Rückhalt zu dienen?
Die Fragezeichen sind grösser geworden. Gerade in den letzten Wochen. In fünf der letzten sechs Spiele fiel Neuer mit einem groben Fehler auf. Mit Bayern München. Und mit dem Nationalteam. Besonders laut war der Aufschrei nach den jüngsten Testspielen gegen die Ukraine und vor allem gegen Griechenland.
Neuers Fehler? «Völlig Wurscht!»
Natürlich weiss auch Neuer selbst, wie das auf den Rängen oder in den TV-Stuben aussah. Aber anstatt allzu sehr auf die Fehler einzugehen, betonte er lieber seine Paraden. «Ich finde, ich habe in beiden Spielen gute Leistungen gezeigt. Und so gehe ich auch in die Gruppenphase.»
Trainer Nagelsmann sprang seinem Torhüter sofort zur Seite. «Völlig Wurscht!», sei ihm, was die Medien schreiben und senden und diskutieren. Es soll nur ja niemand Neuer anzweifeln. Auch intern seien die Fehler kein Thema. «Wir werden nicht daran herumdoktern.» Worauf die Süddeutsche Zeitung süffisant schrieb: «Streng verboten: Eine Torwartdiskussion»
Aber die Debatte war natürlich in der Welt. Zumal in Deutschland ja nicht irgendwer die Ersatzbank hütet. Sondern Marc-André Ter Stegen, Stammtorhüter bei Barcelona, fünffacher Meister und Champions-League-Sieger mit den Katalanen. 32 Jahre alt wurde Ter Stegen Ende April. Und noch immer wartet er darauf, Deutschland einmal an einem grossen Turnier zu vertreten. So langsam läuft ihm die Zeit davon. «Die Entscheidung des Trainers gilt es zu akzeptieren, auch wenn ich nicht einer Meinung bin mit ihm», sagt er.
Warum ist Neuer eigentlich unantastbar?
In Oliver Kahn hat Ter Stegen einen Fürsprecher, dessen Wort Gewicht hat. Via «Bild» meldet der «Titan»: «Ter Stegens Ansprüche sind nicht unberechtigt. Er bringt konstante Leistungen. Dazu waren weder die letzten Turniere von Deutschland erfolgreich, noch wirkt Neuer aktuell stabil. Zudem dürfte er durch die frühe, eindeutige Festlegung auf Manuel wenig Vertrauen spüren.» Im Nachsatz erwähnt Kahn dann doch noch, dass er Neuer zutraut, dank seiner Erfahrung und seinem Status ein wichtiger Faktor zu sein bei der EM.
Auf Nachfrage von CH Media, wie er die «verbotene» Torhüter-Debatte in den letzten Tagen erlebt habe, sagt Nagelsmann: «Es ist schon ein bisschen ruhiger geworden nach meinem Statement. Am Ende ist es aber nur wichtig, was ich denke. Manu hat mein Vertrauen und wird ein gutes Turnier spielen.»
Dass sich Nagelsmann derart für Neuer einsetzt, ist gleichwohl interessant. Denn die beiden haben eine komplizierte Vergangenheit bei den Bayern. Anfangs 2023, als Nagelsmann noch in München Trainer war, wurde Neuers Torwarttrainer und enger Vertrauter, Toni Tapalovic, entlassen. Neuer war schwer gekränkt («Ich hatte das Gefühl: Mir wird das Herz herausgerissen»)
Gut möglich darum, dass Nagelsmann auch an Neuer festhält, um sich nicht der Gefahr eines plötzlichen, heftigen Streits mit Neuer auszuliefern, welcher die Heim-EM überlagern könnte.
Zehn Jahre ist es nun her, seit Neuer mit seinen Glanzleistungen Deutschland zum WM-Titel führte. Nun liegt es auch an ihm, dass an der Heim-EM im Land eine erste Euphorie entsteht. Wobei die grossen Spiele für Neuer ja erst später kommen sollten. Fürs Erste würde es reichen, wenn in Deutschland nach dem Spiel gegen Schottland niemand über Neuer spricht.