«Kaum beachteter Aspekt» – warum US-Präsident Biden bis Ende August kaum zurücktreten wird
Frau Brühwiler, Sie halten sich derzeit für Forschungszwecke im US-Bundesstaat Wisconsin auf. Wie nehmen Sie die Stimmung im Swing State wahr?nClaudia Brühwiler:Die berühmten Schilder in den Gärten der Einfamilienhäuser sind zumindest hier in Wisconsin noch rar. Die heisse Phase des Wahlkampfes kommt noch, es wird ja erst in vier Monaten gewählt. Ich begegnete bislang einer Person mit einem T-Shirt von Donald Trump. Selbst als Joe Biden vor einer Woche hier in Madison war für das Interview mit ABC, haben wir das erst im letzten Moment erfahren. Aktuell haben die Menschen in den USA andere Sorgen.
Die wären?nDas Leben ist für viele Amerikanerinnen und Amerikaner spürbar teurer geworden. Die Lebenshaltungskosten werden im Wahlkampf daher ein dominantes Thema bleiben.
«Wenn die Wirtschaft gut läuft, hat der Präsident die besten Karten.»
Ist Joe Bidens Gesundheitszustand, verglichen mit Themen wie der Wirtschaft, letztendlich doch nicht so wichtig für den Wahlentscheid?nDer Spruch «It’s the economy, stupid!» des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton aus seinem Wahlkampf in den 90er-Jahren bleibt populär. Und es ist definitiv so: Wenn die Wirtschaft gut läuft, hat der Präsident die besten Karten. Im Moment erleben wir in den USA diesbezüglich jedoch eine etwas paradoxe Situation.
Weshalb?nDie Wirtschaft ist auf Kurs, dennoch sind Produkte des Alltags für viele Menschen zu teuer geworden. Das kommt Donald Trump und den Republikanern natürlich zunutze. Trotz der dominanten Stellung der Wirtschaft spielt Bidens Gesundheitszustand aber schon eine grosse Rolle. Die Menschen wählen diejenige Person, der sie am ehesten zutrauen, dass sich bezüglich ihrer Probleme etwas verändert. Wenn sie bei Joe Biden das Gefühl haben, dass er nicht in der Lage ist, ihre Probleme zu lösen, spielt das nebst der Wirtschaft eine genauso grosse Rolle.
Die Debatte um Bidens Gesundheit hat sich seit der TV-Debatte deutlich intensiviert. Wäre es aus Sicht der Demokraten besser gewesen, diese auszulassen?nDie Demokraten sahen die Debatte eigentlich als Befreiungsschlag. Sie wollten, dass die Diskussionen über Bidens Gesundheitszustand aufhören und man wieder über die Politik spricht. Über zwei politische Lager, zwei Kandidaten, zwei konträre Ansichten, was die Zukunft der USA anbelangt. Hätte Biden einen besseren Abend eingezogen, wie etwa bei der Ansprache zur Lage der Nation diesen Frühling, hätte man zu den Demokraten gesagt: «smarter move». Der angestrebte Befreiungsschlag ist jedoch misslungen. Die Debatte nicht anzutreten, wäre aber auch keine Lösung gewesen.
Warum?nDann hätte man den Demokraten an den Kopf geworfen, dass sie irgendetwas zu vertuschen hätten, dass sie Bidens Gesundheitszustand verheimlichen möchten. Zudem haben die Demokraten Trump stark dafür kritisiert, sich in den republikanischen Vorwahlen keiner TV-Debatte gestellt zu haben. Dies dann selbst auch zu tun, wäre nur schwer zu vermitteln gewesen.
«Sollte Biden jetzt von seiner Kandidatur zurücktreten, könnten die Kampagnen-Spenden nicht einfach an eine andere Person übertragen werden.»
Die derzeit dominierende Frage ist: Hält Biden an seiner Kandidatur fest? Oder laufen im Hintergrund Vorbereitungen für eine neue Kandidatur?nDas ist sehr schwierig abzuschätzen. Diese Woche erschien im «Wall Street Journal» ein Artikel, der einen Aspekt thematisierte, der so noch nirgends diskutiert wurde. Die Finanzen von Bidens Kampagne.
Was hat es damit auf sich?nSollte Biden jetzt von seiner Kandidatur zurücktreten, könnten die Kampagnen-Spenden, die man bisher hereinholte, nicht einfach an eine andere Person übertragen werden. Biden könnte aus diesen riesigen Summen nur gerade 2000 Dollar weitergeben. Deswegen spekulieren viele, dass Biden bis zum Parteitag der Demokraten im August ausharren muss, wo er aller Voraussicht nach offiziell nominiert werden wird. Gibt er nach dieser Nomination seinen Rücktritt bekannt, könnte er seine Spenden weitergeben, etwa an Vizepräsidentin Kamala Harris, die diese Kampagne fortführen würde. Das ist ein Aspekt, der das aktuell sehr kämpferische Auftreten des Präsidenten erklären könnte.
«Die Elite-Kritik von Biden ist mit derjenigen von Trump niemals vergleichbar und wirkt etwas gekünstelt.»
Sie sprechen die Medien an. Neuerdings diskutieren selbst die Biden sonst so gut gesinnte «New York Times» und viele weitere Medien seinen Rücktritt. Wie ist dies zu werten?nNun, im Interview mit ABC sagte Biden am letzten Freitag, er habe nicht erfahren, dass irgendjemand ihn als Kandidaten loswerden möchte. Dies werde nur von den Medien gestreut. Er sprach davon, dass eine Elite ihn nicht wolle und damit meint er auch Zeitungen wie die mächtige «New York Times». Jetzt jedoch gegen die Medien zu schiessen, wäre zu kurz gegriffen. Gerade die «New York Times» berichtet durchaus kritisch, hat Biden bezüglich seines gesundheitlichen Zustandes aber immer wieder gestützt. Dass nun selbst die «New York Times» schreibt, Biden solle für eine andere Kandidatur Platz machen, ist Ausdruck von Panik, die sich in Kreisen breitmacht, die nicht wollen, dass Donald Trump erneut an die Macht kommt. Und die merken, dass den Demokraten die Zeit davonrennt.
Dass sich Biden überhaupt eines Anti-Elite-Narrativs bedient, überrascht. Und erinnert an Donald Trump.nNun, es gibt schon Unterschiede zu den Narrativen von Trump. Bei Trump haben sich die grössten Namen der republikanischen Partei damals praktisch geschlossen gegen seine Kandidatur ausgesprochen, das ist bei Joe Biden nicht der Fall. Grössen wie Chuck Schumer, der Mehrheitsführer der Demokraten im Senat, haben sich öffentlich zu ihm bekannt. Auch bekannte Gouverneurinnen und Gouverneure, etwa Gretchen Whitmer aus Michigan oder Gavin Newsom aus Kalifornien, die Biden beerben könnten, haben sich dezidiert hinter ihn gestellt. Ebenso Vizepräsidentin Kamala Harris. Die Elite-Kritik von Biden ist mit derjenigen von Trump niemals vergleichbar und wirkt etwas gekünstelt. Es sind nicht die dominanten Figuren innerhalb der Demokraten, die Biden zum Rücktritt auffordern.
Und trotzdem: Den bedingungslosen Rückhalt innerhalb der Demokraten hat Biden nicht mehr. Wie beurteilen Sie dies?nAus Sicht der Partei und des Präsidenten wäre es sicher besser, die entsprechenden Demokraten würden ihre Kritik intern äussern. Allerdings haben all diese Politikerinnen und Politiker auch eigene Interessen, da ist Kalkül im Spiel und es geht nicht nur um das Wohl der Nation und der Partei. Dass sich die grossen Namen der Demokraten hinter Biden stellen, hat auch damit zu tun, dass einige von ihnen selbst auf das Präsidentenamt spekulieren und sich deswegen nun loyal zeigen, um es sich mit der eigenen Partei nicht zu verspielen.
Sollte Biden tatsächlich zurücktreten, könnte Vizepräsidentin Kamala Harris nachrücken. Eine realistische Option?nEs gibt Stimmen, die sagen, dass er gerne wiedergewählt werden würde, um dann in der Hälfte seiner zweiten Amtszeit, also 2026, zurückzutreten. So könnte Joe Biden in die Geschichtsbücher eingehen, als Mann, der mit Barack Obama dem ersten schwarzen Präsidenten geholfen hat, gewählt zu werden, und der nun auch den Weg frei macht für die erste Frau an der Spitze der USA.
«Die Demokraten wollen unbedingt verhindern, dass der Parteitag im August zu einer Chaosveranstaltung wird.»
Was dann aber bedeuten würde, dass er jetzt nochmals antritt.nExakt. Grundsätzlich ist es so, dass die Demokraten gegen ein erneutes Antreten von Joe Biden auch wenig ausrichten können. Den Präsidenten gegen seinen Willen von einer erneuten Kandidatur abzubringen, ist sicher keine gute Idee. Die Demokraten müssten eine Gegenkandidatur aufbauen, was zu Misstönen führen und die Partei erneut schwächen würde. Die Demokraten wollen unbedingt verhindern, dass der Parteitag im August zu einer Chaosveranstaltung wird. Egal, ob daraus ein geschwächter Joe Biden hervorginge oder eine andere Kandidatur, die dann als sogenannter Königsmörder noch drei Monate Wahlkampf betreiben müsste. Eine Stabsübergabe noch vor den Wahlen im November müsste harmonisch erfolgen und das geht nur, wenn Joe Biden freiwillig zurücktritt.
Was Harris dann in die Pole-Position bringen würde.nDas ist anzunehmen. Kamala Harris ist in meinen Augen jedoch nicht die beste Kandidatin. Eine Kandidatur einer anderen Person, mit einem aussichtsreicheren Profil, die weniger vorbelastet ist, wäre wohl besser. Wenn Joe Biden sein Amt aber an Harris übergeben möchte, wird das passieren. Niemand bei den Demokraten würde sich trauen, die Kandidatur einer dunkelhäutigen Frau abzuschiessen.
Wie stark kommt die Debatte um Bidens Gesundheitszustand Trump und den Republikanern zugute?nDie Republikaner haben sich ja schon lange auf Biden und seinen Gesundheitszustand eingeschossen. Nun heisst es aus dem Trump-Lager genüsslich: «Wir haben es euch ja gesagt.» Die Debatte um Biden kommt den Republikanern sicher auch gelegen, weil sie von anderen Inhalten ablenkt. Biden versucht verzweifelt, seine Erfolge als Präsident zu betonen, die Wirtschaft läuft gut. Aber es reden alle nur über seine Gesundheit, das ist ganz im Sinne der Republikaner.
«Danach werden wir einen Generationenwechsel erleben, die zukünftigen Wahlkämpfe werden hoffentlich erfrischender und interessanter.»
Der Wahlkampf 2024 ist in vielerlei Hinsicht speziell. Der erste verurteilte Ex-US-Präsident kandidiert erneut, ein gesundheitlich angeschlagener Präsident möchte wiedergewählt werden. Beide sind älter als jeder Präsidentschaftskandidat vor ihnen. Was ist ihr Eindruck?nWir erleben in der Tat viele Premieren. Dass Trump nach zwei Impeachments in seiner Amtszeit, einer Verurteilung und mehreren hängigen Verfahren jetzt nochmals antritt, ist einzigartig. Beim aktuellen Wahlkampf handelt es sich – etwas dramatisch ausgedrückt – um die letzte Schlacht einer Generation, welche die amerikanische Politik jetzt sehr lange dominiert hat. Danach werden wir einen Generationenwechsel erleben, die zukünftigen Wahlkämpfe werden hoffentlich erfrischender und interessanter.
Wie verfolgen Sie als Amerikanistin die restlichen vier Monate des Wahlkampfs? Lesen Sie jeden Tag zwei Stunden Zeitungen?nZwei Stunden Zeitung lesen pro Tag wären etwas viel. Ich lese gezielt, habe mehrere Medien abonniert. Ich klinke mich aber auch regelmässig aus. Ein Wahlkampf findet immer mit viel Nebengetöse statt, bald kommen die sogenannten «October Surprises», dann passiert aber doch nichts. Deswegen überlege ich mir jeweils: Was ist wirklich wichtig, und das wirklich Wichtige ist oft gar nicht so dramatisch.