Es ist vorbei: Joe Bidens Rückzug ist nur eine Frage von Tagen
Er hat eine halbe Rede durchgehalten. Zu Beginn seiner Ansprache am Parteitag der Republikaner am Donnerstag gab sich Donald Trump wie angekündigt demütig. Er liess durchblicken, wie tief ihn das Nahtoderlebnis des Attentats vom letzten Samstag erschüttert hat, und versprach, ein Präsident für alle Amerikaner zu sein.
Dann aber war es vorbei mit der Versöhnlichkeit. In seiner wie gewohnt ausufernden Rede teilte er wie gewohnt kräftig aus und liess kein gutes Haar an der Politik seines Nachfolgers Joe Biden. Ein Narzisst wie Donald Trump kann einfach nicht anders. So weit wie gehabt. Verstörend war das Drumherum an der viertägigen Versammlung in Milwaukee.
Mit dem Mordanschlag in Pennsylvania sind die Republikaner endgültig zu einer Huldigungssekte für ihren Anführer geworden. Sie haben einen quasireligiösen Personenkult um den 78-jährigen Trump aufgezogen. Kritische Stimmen sind nicht nur unerwünscht, sie gelten als Verrat. Es war ein zutiefst unamerikanisches Schauspiel.
Republikaner schonen Biden – aus Gründen
Die Ernennung des «Trump-Klons» J.D. Vance zum Vize-Kandidaten war die Kirsche auf der ungeniessbaren Torte. Auffällig in Milwaukee aber war ein weiterer Aspekt. Joe Biden wurde für seine Politik attackiert, seine körperlichen und mentalen Schwächen aber waren kaum ein Thema. Umso heftiger gingen die Republikaner auf Vizepräsidentin Kamala Harris los.
Daraus ergeben sich zwei Befunde: Präsident Biden ist für Trump der absolute Wunschgegner. Gleichzeitig fürchten die Republikaner, dass er seine Kandidatur zugunsten von Harris zurückziehen könnte. Die Entwicklung der letzten Tage deutet tatsächlich darauf hin, dass Biden seinen Widerstand gegen einen Rückzug schon bald aufgeben wird.
Verheerende Prognose
Seinen Wahlkampf musste er wegen einer Corona-Infektion bereits unterbrechen. Die Defizite des 81-jährigen Biden wurden in der desaströsen Fernsehdebatte mit Trump Ende Juni für alle offensichtlich. Das schlägt sich in den Umfragen und Prognosen nieder.
In einer am Mittwoch veröffentlichten AP-Umfrage erklärten fast zwei Drittel der befragten Demokraten, Joe Biden solle das Rennen aufgeben und Platz für eine andere Kandidatur machen. Das widerlegt seine Behauptung, er habe die Basis hinter sich und werde einzig von der «Parteielite» zum Ausstieg gedrängt.
Ebenfalls diese Woche lieferte CNN-Moderator John King eine düstere Prognose für die Demokraten. Beim heutigen Stand habe Biden keine Chance. Donald Trump hingegen könne am 5. November auf einen Erdrutschsieg hoffen. King ist der Zampano der politischen Landkarte. Er kann das Wahlverhalten bis in die hinterste Ecke der USA analysieren.
Solche Befunde sorgen bei den Demokraten für Aufregung. Gegen aussen halten sich ihre führenden Köpfe bedeckt, doch sie revoltieren gegen eine von der Parteileitung geplante vorgezogene Online-Nominierung. Und hinter den Kulissen reden sie auf Biden ein.
Hakeem Jeffries und Chuck Schumer, die beiden mächtigsten Demokraten im Kongress, sollen den Präsidenten in separaten Gesprächen gewarnt haben, dass die Partei im November nicht nur das Weisse Haus, sondern beide Kammern des Parlaments verlieren werde, wenn er nicht auf seine Kandidatur für eine erneute Amtszeit verzichten sollte.
Nancy Pelosi, die 84-jährige Ex-Sprecherin des Repräsentantenhauses, hat dem Präsidenten gemäss CNN gesagt, er könne gegen Trump nicht gewinnen. Der einflussreiche Abgeordnete Adam Schiff, der wie Pelosi aus Kalifornien stammt und als ihr enger Vertrauter gilt, rief Biden diese Woche als erster prominenter Demokrat öffentlich zum Rückzug auf.
Selbst Barack Obama soll im Gespräch mit Unterstützern gesagt haben, Bidens Siegeschancen hätten sich deutlich verringert, berichtete die «Washington Post». Er hatte seinen einstigen Vize nach der TV-Debatte noch in Schutz genommen. Obama fühlt sich Biden verpflichtet, weil er ihn 2016 zum Verzicht zugunsten von Hillary Clinton gedrängt hatte.
Diese Dynamik scheint an Joe Biden nicht spurlos vorbeizugehen. Bislang hielt er stur an seiner Bewerbung fest, doch am Donnerstag berichteten CNN und New York Times, er sei «empfänglicher» für Rückzugsargumente. Die Wagenburg, in der er sich mit Familie und Vertrauten verschanzt hat, wird durchlässig.
Aufschlussreich war auch ein Interview mit dem Fernsehsender BET, der sich vor allem an junge Afroamerikaner richtet. Dabei deutete der Präsident erstmals an, dass nicht nur «Gott der Allmächtige» ihn zum Verzicht bewegen könnte, sondern auch gesundheitliche Gründe. Er räumte ein, dass er sich eigentlich als «Übergangspräsident» betrachtet habe.
«Das Ende ist nahe»
Aus diesen Einzelteilen ergibt sich noch kein klares Bild. Aber die Konturen sind erkennbar: Joe Bidens Verzicht auf die Kandidatur ist nicht eine Frage von Wochen, sondern von Tagen. «Das Ende ist nahe», sagte eine ihm nahestehende Person gemäss NBC News. Mitglieder seiner Familie berieten über einen möglichst würdevollen «Exit Plan», berichtete der US-Sender am Freitag.
Das Wochenende wird Joe Biden zwecks Covid-Isolation in seinem Strandhaus in Rehoboth Beach verbringen. Er könnte die Zeit nutzen, um mit der Partei über die Modalitäten seines Rückzugs zu beraten. Denn schon in vier Wochen findet der Konvent der Demokraten in Chicago statt. Je schneller für klare Verhältnisse gesorgt wird, umso besser für die Partei.
Harris als Sofort-Nachfolgerin?
Einen Chaos-Parteitag wie 1968 am gleichen Ort können sich die Demokraten nicht leisten. Im Vordergrund für die Nachfolge steht Vizepräsidentin Kamala Harris. Biden könnte zu ihren Gunsten per sofort das Präsidentenamt niederlegen und Geschichte schreiben. Als erste US-Präsidentin könnte Harris den Nachteil des späten Einstiegs kompensieren.
Eine andere Möglichkeit wäre, das Rennen für alle Interessierten zu öffnen und eine Art Blitz-Wahlkampf zu organisieren. In einem Online-Votum würde die Siegerin oder der Sieger ermittelt und vom 19. bis 22. August in Chicago offiziell nominiert. Dieses Verfahren würde den Demokraten sehr viel Publizität bescheren und von Donald Trump ablenken.
Unproblematisch wäre ein Verzicht Bidens nicht. Es würden sich schwierige Fragen stellen betreffend der Organisation und der üppig gefüllten Wahlkampfkasse des Präsidenten. Aber ein «Weiter so» kann es nicht geben. Schon nächste Woche könnte der Vorhang fallen.