Kreischalarm in Locarno: Der populärste Schauspieler der Welt besucht das Filmfestival – wie es dazu kam
Ein Blick, eine Geste oder nur eine Zeile aus einem seiner zahlreichen Filme: Und das Gekreische geht wieder von vorne los. Egal wo Shah Rukh Khan in Locarno auftritt, auf dem roten Teppich, auf der Piazza Grande – oder im Kinosaal: Seine Fans sind da. Und sie kreischen.
So etwas hat das Filmfestival Locarno noch nie erlebt. Es gab auf der Piazza Grande schon Standing Ovations, wie etwa zuletzt 2023 für den britischen Regisseur Ken Loach, und es gab in früheren Jahren wartende Fans am abgesperrten roten Teppich für die Hollywood-Schauspieler Adrien Brody oder Andy Garcia. Aber noch nie waren sie so laut. Und so zahlreich.
Um den 58-jährigen Shah Rukh Khan zu sehen, sind sie aus Washington D.C., New York oder Rom angereist, wie sie erzählen. Sie haben Fotos, T-Shirts und selbstgemalte Bilder mitgebracht von ihrem Idol – und sich schon Stunden vor Türöffnung in die Warteschlange gestellt, um beim vom Festival organisierten, einstündigen Gespräch im Kino Gran Rex einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern.
Im Westen ist Shah Rukh Khan ein Bollywood-Star, in seiner Heimat, in Asien und auch im arabischen Raum ist er ein Monument. Dort ist er «King Khan», der oft einen Held spielt, der – vor moralische Dilemmata gestellt – sich immer für die Liebe und das Gute entscheidet, was letztlich irgendwie zu einem Happy End für alle führt.
Den Durchbruch hat er mit «Dilwale Dulhania Le Jayenge» – kurz: «DDLJ» – vor knapp 30 Jahren geschafft, einer romantischen Musikkomödie, die seit 1995 in Mumbai im Kino läuft und teilweise in der Schweiz gedreht wurde – etwa auf der Brücke beim Bahnhof Saanen, in Gstaad, in Interlaken oder auf dem Titlis. Für ihn, aufgewachsen in einem «Haushalt der unteren Mittelschicht in Delhi», wie er selbst sagt, sei es ein Traum gewesen, zum Drehen in die Schweiz zu reisen, die für Inder zu einem landschaftlichen Ersatz des kriegsgeplagten Sehnsuchtortes Kashmir geworden ist. Damals, ergänzt Khan, habe er zum ersten Mal in seinem Leben Schnee gesehen.
«DDLJ» habe damals seine Karriere verändert. «Für mich schliesst sich jetzt ein Kreis.» Seine Karriere habe hier in der Schweiz richtig begonnen, und nun erhalte er hier in der Schweiz mit dem «Pardo alla Carriera» den Preis für sein Lebenswerk.
Lange bleibt der Entertainer nicht ernst. Scherzhaft fordert er das Festival auf, «ein paar Fäden zu ziehen», um ihm die Ehrenbürgerschaft der Schweiz zu besorgen – und ihm auch noch gleich seinen Tennishelden Roger Federer vorzustellen. Angesichts der Massen an Touristen aus Indien, die heute noch dank «DDLJ» in die Schweiz reisen, hat Khan mit dem Schweiz-Tourismus-Werbeaushängeschild Federer durchaus einiges gemeinsam.
Wieso das Festival am Abend der Preisübergabe auf der Piazza Grande darauf verzichtet, dem Publikum unter dem Sternenhimmel einen Film des indischen Superstars zu zeigen, bleibt ein Rätsel. Dennoch: Khan ist ein Coup fürs Festival, und das nicht nur, weil sich die Likes auf den Social-Media-Posts verzigfachen, wenn der indische Schauspieler sie weiterverbreitet. Gelungen ist er auch dank familiärer Beziehungen zwischen dem Festival und der offiziellen Schweiz.
Eine Schlüsselrolle spielte dabei Jonas Brunschwig, Generalkonsul und Chef des Ablegers des Innovationsnetzwerkes Swissnex in Bangalore – und Bruder von Raphaël Brunschwig, dem Chefmanager des Filmfestivals. Jonas Brunschwig war es, der den Kontakt zu Khan ermöglicht hatte. Jetzt ist er auch in Locarno – und leiht Khan sein Handy, damit dieser Selfies mit seinen Fans machen kann. Bevor er dann – wie immer gut abgeschirmt – wieder in sein Hotel in Orselina oberhalb von Locarno chauffiert wird.
3,5 Milliarden Fans und 600 Millionen Dollar
Mit einem geschätzten Vermögen von rund 600 Millionen Dollar ist Khan heute einer der reichsten Schauspieler weltweit, er besitzt seine eigene Produktionsfirma und vier Cricket-Teams. Und er feiert an den Kinokassen immer wieder neue Rekorde. Seine neusten Actionfilme wie «Jawan» locken das Publikum in Scharen in die Säle. Vergessen sind die etwas schlechteren Resultate vor ein paar Jahren.
Seiner Karriere nicht viel anhaben können auch die Anhänger der nationalistisch hinduistischen Modi-Regierung. Sie lehnen Khan – als Muslim und als mächtiger Exponent der Bollywood-Welt – zwar ab, müssen ihn angesichts seiner Popularität aber erdulden. Weltweit, so heisst es, soll Khan 3,5 Milliarden Fans haben. Tausende von ihnen pilgern zu seiner Villa nach Mumbai, wo Khan sie mit regelmässigen Auftritten auf einem extra dafür aufgebauten Balkon beglückt.
Khan wiederum verzichtet auf politische Statements, verkauft sich einzig als Schauspieler, der den Leuten etwas «Freude» bringen wolle. Und er besuchte Mitte Juni auch pflichtbewusst den Anlass, an dem sich Narendra Modi für eine dritte Amtszeit als Regierungschef vereidigen liess. Dort, so vermeldet es«The Economic Times», soll der Schauspieler jedoch dem Politiker die Show gestohlen haben. Eine Erfahrung, die letztlich alle machen, die Khan einladen.