So betrifft der höchste Mindestlohn der Schweiz Frauen und Junge – die Gewinner und Verlierer
In den Kantonen Basel-Stadt, Neuenburg, Jura und Tessin gilt er schon, in den Städten Zürich und Winterthur kommt er ebenfalls: der Mindestlohn. Am höchsten ist er aber ganz am westlichsten Zipfel der Schweiz, im Kanton Genf. Hier verdienen alle mindestens 24.32 Franken pro Stunde (monatlich 4400 Franken).
Die Einführung des Mindestlohnes war wie anderswo mit grossen Hoffnungen (Gewerkschaften) respektive Ängsten (Arbeitgeber) verbunden. Würde sich die Arbeitslosigkeit erhöhen? Und wie entwickeln sich die Saläre?
Genf steckt mitten in der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Fragen. Ein Team um José Ramirez erstellt insgesamt vier Studien. Im ersten Bericht kam der Wirtschaftsprofessor der Uni Genf zum Schluss, dass sich der Mindestlohn nicht signifikativ auf die Arbeitslosigkeit in der Gesamtbevölkerung ausgewirkt hat.
Der zweite, am Donnerstag vorgestellte Bericht, bestätigt den Befund – liefert aber differenzierte Ergebnisse für einzelne Bevölkerungsgruppen.
Junge verlieren ihren Vorteil
Die gute Nachricht gibt es für Frauen: Der Mindestlohn erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass sie als Arbeitslose eine Stelle finden, und zwar um 6,5 Prozent im Vergleich zu den Männern. Damit werde etwa die Hälfte der geschlechterspezifischen Unterschiede wettgemacht, erklärt Ramirez. Denn heutzutage bleiben Frauen im Schnitt länger arbeitslos als Männer. Das liegt daran, dass weiblich dominierte Berufsfelder häufiger schlecht bezahlt sind. Gibt es einen Mindestlohn, steigen die Anreize für arbeitslose Frauen, eine Stelle anzunehmen.
Wegen des Mindestlohnes länger für die Jobsuche brauchen dagegen junge Erwachsene und Menschen ohne Maturitätsabschluss. Bei den 18- bis 25-Jährigen ging die Chance, der Arbeitslosigkeit zu entfliehen, um 11,1 Prozent zurück. Dies zeigen die Daten der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) in Genf, Bern, Freiburg und der Waadt aus dem Zeitraum Juli 2018 bis März 2023 – also 28 Monate vor und nach Einführung des Genfer Mindestlohnes.
Für junge Erwachsene sei der Sprung aus der Arbeitslosigkeit normalerweise einfach, erklärt Ramirez. Der Mindestlohn mache ihren Vorteil zunichte: Junge können nicht mehr zu tieferen Löhnen eingestellt werden als erfahrenere Personen.
Davide De Filippo von der Gewerkschaft SIT kritisiert an der Pressekonferenz, dass Arbeitgeber von jungen Erwachsenen «immer mehr Kompetenzen und vorgängige Erfahrung» einfordern. Er appelliert an diese, den Jungen eine Chance zu geben. Der Präsident des Genfer Gewerbeverbandes, Pierre-Alain L’Hôte, betont seinerseits, man müsse «wachsam» bleiben, wie der Mindestlohn verschiedene Bevölkerungsgruppen betreffe. Es gelte zudem, die zwei ausstehenden Berichte zur Lohn- und Stellenentwicklung abzuwarten. Den Volksentscheid der Genferinnen und Genfer akzeptiere man aber.
Bald wieder Thema in Bundesbern
Die kantonale Wirtschaftsdirektorin Delphine Bachmann (Mitte) freut sich aus Sicht der Frauen über die Resultate, macht aber klar: «Für junge und weniger gut ausgebildete Menschen haben wir echte Arbeit vor uns.»
Ungemach droht derweil aus Bern: Mitte-Ständerat Erich Ettlin brachte im Parlament seinen Vorstoss durch, der kantonale Mindestlöhne aushebeln will, wenn es in einer Branche einen verbindlichen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) mit tieferem Mindestlohn gibt. Die bundesrätliche Vernehmlassung zur Umsetzung ging im Mai zu Ende. Im Herbst dürfte die Gesetzesänderung in den parlamentarischen Kommissionen landen.
Die neuste Studie ändere nichts an der ablehnenden Haltung der Genfer Regierung zur Motion Ettlin, betont Bachmann auf Nachfrage. «Der Vorstoss ist aus föderalistischer Sicht ein Problem, er greift in die Autonomie der Kantone ein.»