Eskalation nach 54 Jahren Ehe: Aargauer sticht mit Schraubenzieher auf seine Frau ein – die will ihn trotzdem zurück
Ein Hilfeschrei schreckte an einem Montagabend im Juli Anwohner einer Wohnsiedlung in Widen auf. Die Polizei nahm einen 76-jährigen Rentner fest. Seine 73-jährige Ehefrau wies Stichverletzungen an Hals und Brust auf (die AZ berichtete) und musste ins Spital gebracht werden.
Ein neuer Entscheid des Obergerichts, kürzlich publiziert, wirft ein Licht darauf, wie es zur Gewalttat im Freiämter Dorf kam. Das Ehepaar ist schon seit 54 Jahren verheiratet. Die Frau warf ihrem Mann seit Jahren vor, dass er Affären mit anderen Frauen habe. Das bekam der Mann auch an jenem Tag im Juli zu hören. Ebenso, dass er kein Mann sei und sich doch anschauen solle. Plötzlich nahm er einen Schraubenzieher, der auf einem Tisch lag, und stach auf seine Ehefrau ein.
Ehemann spricht von einem Blackout
Gegenüber der Polizei zeigte er sich geständig und sagte aus, er habe in diesem Moment ein Blackout gehabt. Die Kontrolle verloren. Er habe nach der Tat den Notruf gewählt, sei schockiert über sein Verhalten gewesen. Und er habe nie die Absicht gehabt, seine Frau zu töten. Auf die Frage nach dem Warum antwortete er, seine Frau solle einfach aufhören mit den Beschuldigungen zu den anderen Frauen.
Die Staatsanwaltschaft Bremgarten-Muri eröffnete ein Strafverfahren wegen versuchter vorsätzlicher Tötung. Im Raum steht zumindest die Straftat einer schweren Körperverletzung, für welche eine Mindeststrafe von einem Jahr gilt. Die Frau hat gemäss Staatsanwaltschaft nur durch «Glück und Zufall» überlebt. Denn Stiche gegen Hals und Brust mit einem spitzen Gegenstand seien naturgemäss lebensgefährlich. Der Ehemann habe zumindest in Kauf genommen, dass seine Frau sterben könnte.
Physischer Kontakt zur Ehefrau verboten – telefonieren und chatten erlaubt
Im Entscheid des Obergerichts ging es allerdings nicht um das Strafverfahren zum Ehemann – die Verhandlung vor dem Bezirksgericht Bremgarten fand noch nicht statt. Vor Obergericht ging es um Folgendes: Der Ehemann wurde im August, also einen Monat nach der Gewalttat, aus der Untersuchungshaft entlassen.
Das Zwangsmassnahmengericht verfügte auf Antrag der Staatsanwaltschaft die drei folgenden Massnahmen zum 76-Jährigen. Erstens ist ihm jeglicher persönlicher (physischer) Kontakt zu seiner Frau verboten. Telefonieren und chatten darf er mit ihr. Zweitens muss er zur ehelichen Liegenschaft mindestens 50 Meter Abstand halten und sämtliche Schlüssel abgeben. Drittens muss er bei einer Anlaufstelle gegen häusliche Gewalt eine Beratung in Anspruch nehmen.
Gegen die Massnahmen wehrte sich der Mann mit einer Beschwerde. Er und seine Frau würden wieder zusammenleben wollen. Im Gerichtsentscheid findet sich dazu folgende Anekdote: Als die Ehefrau vier Tage nach der Eskalation im Spital erfuhr, ihr Mann habe einen Anwalt, erkundigte sie sich telefonisch und aufgebracht bei der Polizei über den Grund. Ob er sich etwa von ihr scheiden lassen wolle? Sie würde nämlich für ihn kämpfen – aber nur, wenn er keine Beziehung zu einer anderen Frau führen würde.
Die Staatsanwaltschaft spricht von einer langjährigen problematischen oder gar einer toxischen Beziehung. Die Selbsteinschätzung des Ehepaars, den Vorfall auch ohne fachliche Unterstützung aufarbeiten zu können, sei realitätsfremd.
Fusstritt gegen Gesäss und Kratzverletzungen
Das Obergericht teilt die Einschätzung der Staatsanwaltschaft und hat die Beschwerde des Ehemanns abgewiesen. Eine erneute Gewalteskalation zwischen dem Ehepaar sei nicht ausgeschlossen. Der Vorfall vom Juli scheine das Ergebnis eines über Jahrzehnte angewachsenen Beziehungs- und Eheproblems zu sein.
Dabei scheine die Ehefrau zwar mit ihrem Verhalten massgeblich zur Eskalation beigetragen zu haben, zumal sie bis dahin Gewalt angewendet habe. Das Gericht nennt hierzu einen Fusstritt in das Gesäss des Ehemanns und diverse, teils ältere Kratzverletzungen. Ihr Ehemann habe aber an jenem Tag im Juli das Eskalationspotenzial auf ein neues Niveau gehoben.
Laut Obergericht besteht die ernsthafte Gefahr, der Mann könnte in einer weiteren Diskussion mit seiner Ehefrau erneut plötzlich die Kontrolle verlieren und mit Gewalt reagieren. Eine forensisch-psychiatrische Abklärung soll seine Gefährlichkeit einschätzen und sich insbesondere mit der Ursache der Gewalteskalation auseinandersetzen. Das sei unumgänglich, um das Risiko beurteilen und allenfalls gezielte Massnahmen ergreifen zu können. So, dass längerfristig wieder ein sicheres Zusammenleben des Ehepaars möglich sei.