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«Bei Sahra Wagenknecht ist das stalinistische Erbe unübersehbar»

Was ist los in Ostdeutschland? AfD-Siege schrecken den Berliner Politikbetrieb auf. Dabei sähe man im Osten vieles klarer, findet Reiner Haseloff, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Manches in der Bundesrepublik erinnert den CDU-Politiker an die späte DDR.

Herr Haseloff, während Ihre Parteikollegen in Sachsen und Thüringen darüber nachdenken, wie sie mit der AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) umgehen sollen, regieren Sie zusammen mit SPD und FDP. Sind Sie froh, nicht die Probleme Ihrer Kollegen zu haben?

Reiner Haseloff: Meine Kollegen sind nicht zu beneiden. Die Verhältnisse in Sachsen-Anhalt sind stabil. Bis 2021 regierten wir als CDU zusammen mit der SPD und den Grünen. Zwei linke Parteien standen einer bürgerlichen gegenüber. So entstand in der Regierung eine Situation, die den Mehrheitsverhältnissen in der Bevölkerung spiegelbildlich entgegenstand. Jetzt besteht dagegen eine Symmetrie: CDU, SPD und FDP, das entspricht eher der Stimmung in der Bevölkerung. Eine Mehrheit in Deutschland steht Mitte-rechts.

Das hilft Ihnen als CDU in vielen Fällen aber wenig, zumal hier im Osten: Weil die AfD nicht als koalitionsfähig gilt, sind ihre Stimmen für Regierungsbildungen verloren.

Ja, die sind erst einmal weg.In Sachsen, Thüringen und Brandenburg haben um die 30 Prozent für die AfD gestimmt.Diese Stimmen sind für eine konstruktive Politik verloren. Das ist auch für die CDU ein Problem. Die SPD könnte mit dem BSW allerdings ein ähnliches Problem auf der linken Seite bekommen.

Manche meinen, man könne sich der AfD durch ein Parteiverbot entledigen. Ist das eine gute Idee?

Das halte ich juristisch für ziemlich aussichtslos und auch nicht für besonders klug. Für ein Verbot müsste der Nachweis erbracht werden, dass die Partei flächendeckend aktiv darauf abzielt, die verfassungsgemässe Ordnung zu bekämpfen, nicht nur einzelne Landesverbände wie in Thüringen. Schon das NPD-Verbot ist gescheitert, obwohl sich die NPD extremer positioniert hat als die AfD. Da war eine Kontinuität zur NSDAP erkennbar, während die AfD in Westdeutschland von eher liberalen Finanzpolitikern gegründet worden war, denen sie dann aus den Händen gerissen wurde. Aber letztlich handelt es sich um eine westdeutsche Elitengründung.

Die heute aber im Osten stärker abschneidet als im Westen.

Die AfD wurde mit der Zeit zu einer Plattform, die dazu diente, jeglichen Unmut gegenüber den etablierten Kräften zum Ausdruck zu bringen. Das fällt im Osten, wo die Bindungen an Kirchen oder Parteien sehr viel schwächer sind, auf fruchtbaren Boden. Wer unzufrieden ist, wählt oft AfD. Derzeit kommt noch die schlechte Politik der «Ampel» hinzu.

Deutschlands dienstältester Regierungschef

Mit seinen etwas mehr als zwei Millionen Einwohnern zählt Sachsen-Anhalt weder zu den grossen noch zu den wirtschaftlich stärksten deutschen Ländern, doch Reiner Haseloffs Amtssitz wirkt herrschaftlich: Das Palais am Fürstenwall, errichtet in den 1880er-Jahren, beherbergte einst das Generalkommando des IV. preussischen Armeekorps. Kaiser Wilhelm II. residierte hier, wenn er in Magdeburg war; von 1904 bis 1911 bewohnte Paul von Hindenburg, der spätere Reichspräsident, den Neo-Renaissance-Bau.
Haseloff, 70, regiert das Bundesland seit 2011 und ist damit der dienstälteste deutsche Ministerpräsident. Seine Familie ist seit dem 16. Jahrhundert in Wittenberg ansässig, dem Ort, an dem die Reformation ihren Ausgang nahm: Martin Luther soll dort 1517 seine 95 Thesen zur Lage der Kirche ans Tor der Schlosskirche genagelt haben. Haseloff aber ist Katholik, was ihn in einer traditionell protestantischen, heute jedoch mehrheitlich atheistischen Region zur Rarität macht.
Nach der Wende leitete der promovierte Physiker zunächst das Arbeitsamt seiner Heimatstadt, dann engagierte er sich in der Kommunalpolitik. Von 2016 bis 2021 regierte er in einer «Kenia-Koalition» aus CDU, Sozialdemokraten und Grünen. 2021, nach einem guten Wahlresultat seiner Partei, konnte er eine «Deutschland-Koalition» mit SPD und FDP eingehen.
Im Vorgespräch interessiert den Christdemokraten nicht zuletzt, ob die Schweiz von der Einwanderung profitiere oder ob zusätzliche Belastungen für die Infrastruktur den Nutzen überwögen. Ob er 2026, bei der nächsten Landtagswahl, noch einmal antritt, lässt Haseloff offen. Sein Rückzug war schon vor Jahren erwartet worden, doch dann machte er weiter. Die Öffentlichkeit, aber auch seine Parteikollegen im Ungewissen zu lassen, scheint ihm eine gewisse Freude zu bereiten. (hfm)

Michael Kretschmer und Mario Voigt, Ihre Parteikollegen in Sachsen und Thüringen, werden sich nun mit dem BSW verständigen müssen, um regieren zu können. Geht das?

Na ja, das BSW ist im programmatischen Kern sowie in Person und Werdegang seiner Namensgeberin eine linksextreme Partei.

Linksextrem? Dann könnte die CDU aber nicht mit dem BSW zusammenarbeiten.

Wagenknecht stammt aus der Kommunistischen Plattform.Das stalinistische Erbe ist unübersehbar, denken Sie nur an den Personenkult. Noch nie hat sich eine Partei in Deutschland nach einer Person benannt. In vielen Fragen stimmt das BSW aber auch mit der AfD überein, etwa in der Flüchtlingspolitik. Zudem gibt es die Partei eigentlich noch gar nicht flächendeckend. Ich kenne hier in Sachsen-Anhalt kein einziges BSW-Mitglied. Niemand weiss, was da entsteht. Auch deshalb halte ich mich mit Ratschlägen lieber zurück.

Kürzlich haben Kretschmer, Voigt und der brandenburgische SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke in einem Beitrag in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» mehr diplomatische Anstrengungen gegenüber Russland gefordert. Ist das der Kotau vor Sahra Wagenknecht, den viele darin sahen?

Meine Position zu dem Thema ist klar: Es muss immer Diplomatie geben und es gibt sie ja auch. Man muss immer wieder versuchen, Kontakte zu knüpfen, auch über Dritte, damit ein heisser Krieg, der jeden Tag Menschenleben kostet, so schnell wie möglich beendet wird. Aber die andere Seite muss auch gesprächsbereit sein und es darf keine falschen Kompromisse geben, schliesslich haben wir es mit einem Konflikt zwischen Autokratie und Demokratie zu tun.

Warum blicken viele Ostdeutsche so freundlich auf Russland?

Die Ostdeutschen sind nicht russlandfreundlich. Aber die russische Literatur ist ihnen vertrauter, und sie haben die Russen als Menschen kennengelernt, als Soldaten, denen es recht elend ging und denen man auch geholfen hat, wenn sie nichts zu essen hatten. Wir haben aber auch gesehen, was geschah, wenn mal einer durchgedreht ist oder desertiert hat. Man weiss hier, dass die Russen robust unterwegs sind, um es freundlich zu sagen. Was Gewalt angeht, haben sie eine andere Hemmschwelle.

Hatten Sie Angst vor den Russen?

1989 war zumindest unklar, was passieren würde. Sie hätten die Revolution auch niederschlagen können. 1991, während des Augustputsches gegen Michail Gorbatschow, waren die Russen noch hier, auch in meiner Heimatstadt Wittenberg gab es eine grosse Garnison. Wir sassen im Landratsamt und wussten nicht, wie sich die Truppen vor Ort verhalten würden. Die Russen sind in der Lage, einen langen und harten Krieg zu führen. Wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen, sind sie zu vielem fähig. All das wird in den Medien, die übrigens fest in westdeutscher Hand sind, viel zu wenig analysiert. Zudem treffen die Sanktionen auch aufgrund historischer Verflechtungen kleine und mittelständische Betriebe im Osten viel härter als westdeutsche Konzerne. Aber wenn man das anspricht, gilt man schnell als Putin-Freund.

Was den Umgang mit Russland betrifft, scheinen Sie Kanzler Scholz näherzustehen alsIhrem eigenen Parteichef Friedrich Merz.Ist er der richtige Kandidat für den Osten?

Merz und Scholz stehen sich in dieser Frage viel näher als in den meisten anderen. Aber entscheidend ist ohnehin etwas anderes: Wir brauchen eine Alternative zur AfD und zum BSW, und dafür ist Merz der Richtige.

Weil er unbelastet ist, was die Merkel-Jahre angeht? Er war damals Geschäftsmann und musste Angela Merkels Politik nicht mittragen.

Ich glaube nicht, dass das Thema Merkel hier eine Rolle spielt: Eine Volkspartei wie die CDU ist eben breiter aufgestellt als kleine Parteien. Wer über 30 Prozent gewinnen will, muss mehr sein als eine Klientelpartei, die mit 5 Prozent zufrieden sein kann. Merz war viel im Osten unterwegs, auch aus beruflichen Gründen: Er war unter anderem Aufsichtsratsvorsitzender einer Papierfabrik in Leuna. Er kennt den Osten besser als viele andere.

Gegensätze zwischen Ost- und Westdeutschland sind heute wieder ein grosses Thema. Vor 30 Jahren hätten wohl die meisten gedacht, dass die Unterschiede mit der Zeit verschwinden würden. Sind Sie von den heutigen Debatten überrascht?

Sie überraschen mich und auch wieder nicht. Die PDS und die Linkspartei als Nachfolgeparteien der SED suchten natürlich ein schwarzes Schaf, auf das sie ihre Schuld abwälzen konnten. Das fanden sie im Westen, weshalb sie bis heute die Gegensätze bewirtschaften. Aber der Unmut vieler Ostdeutscher ist auch verständlich: Die Eliten sind mehrheitlich immer noch westdeutsch. Fast alle Professoren stammen aus dem Westen, denn bei Berufungen sind Netzwerke entscheidend. 40 Jahre Kommunismus lassen sich nicht so schnell ungeschehen machen. Vor 1945 war der mitteldeutsche Raum wirtschaftlich stärker als das Ruhrgebiet. Nach dem Krieg zogen die Banken nach Frankfurt, die Automobilindustrie nach Bayern und Siemens von Berlin nach München. Heute befinden sich die Hauptsitze grosser Unternehmen im Westen. Trotz aller Fortschritte, so etwas wirkt nach.

Manche meinen, wer den Zusammenbruch der DDR erlebt habe, habe eher ein Gefühl dafür, dass auch das Leben von Staaten endlich ist. Deswegen sähen die Ostdeutschen eher Risse im Fundament.

Das ist so. Die Bundesrepublik Deutschland hat 75 Jahre wunderbar funktioniert und viele im Westen glauben, das wäre auf ewig so. Und natürlich hat es eine erfolgreiche Entwicklung auch im Osten gegeben. Unternehmen haben sich angesiedelt, die Arbeitslosigkeit ist deutlich gesunken, der Wohlstand gestiegen und das Gesicht der Städte und Dörfer sehr viel freundlicher geworden. Aber wir sehen auch, dass dies durch die aktuelle Politik der «Ampel» gefährdet ist.

Wo sehen Sie heute Parallelen zur Endzeit der DDR?

Schauen Sie sich nur unsere öffentlichen Haushalte an: Wir geben für Zuwanderung und Soziales mehr aus, als wir uns leisten können. Das Bürgergeld kostete uns im letzten Jahr rund 43 Milliarden Euro; die Hälfte davon geht an Nichtdeutsche. Hinzu kommt noch die Hilfe für die Ukraine. All das entspricht längst nicht mehr unserer Leistungsfähigkeit. Gleichzeitig wird der Wirtschaftsstandort durch Energiepolitik und Überbürokratisierung geschwächt. Dass der Staat über seine Verhältnisse lebte, war auch der Befund, den Gerhard Schürer, der Chef der Staatlichen Plankommission, 1989 dem neu gewählten SED-Generalsekretär Egon Krenz vorgelegt hat.

Ist die Migrationspolitik tatsächlich das grosse Thema, an dem sich entscheidet, ob sich die etablierten Parteien halten können?

Das wird in ganz Deutschland so gesehen. Man hat die Verantwortung an die EU abgegeben, und das hat nicht funktioniert.Schengen und die Sicherung der Aussengrenzen sind zum jetzigen Zeitpunkt weit von dem entfernt, wie sie eigentlich gedacht waren.Ich bin der Meinung, dass Politiker sich ihrer nationalen, verfassungsmässigen Verantwortung nicht dauerhaft entziehen können. Ich habe nichts gegen Einwanderung. Wir benötigen sie sogar. Aber sie muss gezielt und kontrolliert in den Arbeitsmarkt erfolgen – und nicht in die Sozialsysteme. Wenn wir das nicht endlich steuern, delegieren wir diese Probleme an die Menschen im Land, die uns dann aus der Wahlkabine eine Rückmeldung geben.