Expertin über Schlafstörungen: «Wir leben in einer Gesellschaft des Schlafentzugs»
Schweizerinnen und Schweizer schlafen schlecht. Im Jahr 2022 litt mehr als ein Drittel der Bevölkerung an Schlafstörungen, ein Prozentsatz, der in den letzten 25 Jahren stetig gestiegen ist. Nur 3 Prozent der Schweizer geben an, noch nie Schwierigkeiten beim Einschlafen gehabt zu haben. Dies geht aus den neuesten Zahlen hervor, die das Bundesamt für Statistik (BFS) am Donnerstag veröffentlichte.
Schlafstörungen seien «weit verbreitet und stellen ein grosses Problem für die öffentliche Gesundheit dar», so das BFS. Was das beutet, erklärt Expertin Tifenn Raffray, die medizinische Co-Direktorin des Schlafzentrums Florimont in Lausanne.
Laut dem BFS nehmen Schlafstörungen in der Schweiz zu. Beobachten Sie denselben Trend?
Tifenn Raffray:Ja. In meiner Praxis beobachte ich einen Anstieg. Es ist aber unmöglich zu sagen, inwieweit dies auf das Bevölkerungswachstum zurückzuführen ist oder ob es andere Faktoren gibt. Hören die Menschen mehr über Schlafstörungen und suchen eher Hilfe auf, weil sie wissen, dass es wirksame Lösungen gibt? Das ist durchaus möglich. Studien haben gezeigt, dass Angststörungen und Depressionen während der Covid-Phase zugenommen haben, insbesondere bei jungen Menschen. Dies kann sich auf Schlafprobleme auswirken oder auf Übergewicht und Fettleibigkeit, welche Risikofaktoren für Schlafapnoe sind.
Gab es diese Beschwerden schon immer oder hängen sie mit den heutigen Lebensbedingungen zusammen?
In den letzten dreissig Jahren haben wir eine Stunde Schlaf verloren. Wir leben in einer Gesellschaft des Schlafentzugs, und das hat Auswirkungen auf die Gesundheit. Müdigkeit und Schläfrigkeit treten häufiger auf, was zu zusätzlichen Arztbesuchen und Beschwerden führt. Unser heutiger Lebensstil, der von Leistungsdruck geprägt ist, begünstigt sehr wahrscheinlich das Auftreten von Schlaflosigkeit. Einige neurologische Erkrankungen sind hingegen weder neu noch hängen sie mit unserem Lebensstil zusammen. Die Narkolepsie zum Beispiel wurde in medizinischen Abhandlungen bereits Anfang des 19. Jahrhunderts beschrieben.
Die Zahlen zeigen, dass Frauen stärker betroffen sind: 37 Prozent leiden unter Schlafstörungen, bei den Männern sind es 29 Prozent. Warum?
Diese Diskrepanz lässt sich dadurch erklären, dass Schlaflosigkeit, eine der am weitesten verbreiteten Schlafstörungen, bei Frauen häufiger vorkommt als bei Männern. Generell gibt es viele Studien, die belegen, dass Frauen eher professionelle Hilfe in Anspruch nehmen als Männer. Obwohl die Gründe dafür nicht ganz klar sind, sind Frauen auch anfälliger für Angststörungen oder Depressionen, die häufig Schlafprobleme erzeugen.
Das BFS betont, dass es einen «klaren Zusammenhang» zwischen Schlafstörungen und psychischen Gesundheitsproblemen gibt.
Einige psychische Erkrankungen beeinflussen den Schlaf. Depressionen zum Beispiel gehen fast immer mit Schlafproblemen einher. Und unbehandelte Schlafstörungen erhöhen das Risiko, an Depressionen und Angststörungen zu erkranken. Auch das Erleben eines stressigen oder schwierigen Ereignisses kann Schlaflosigkeit auslösen, ohne dass sich daraus eine Depression entwickelt.
Welchen Einfluss haben unsere täglichen Gewohnheiten?
Der Lebensstil und die Lebensweise wirken sich auf den Schlaf aus. Kaffeekonsum oder Bildschirmarbeit, insbesondere in den Stunden vor dem Schlafengehen, können zu Schlaflosigkeit führen. Auch ein unregelmässiger Schlafrhythmus, bei dem man jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten aufsteht, spielt eine Rolle. Wer unter Schlaflosigkeit leidet, sollte es vermeiden, am Wochenende ein Nickerchen zu machen oder später aufzustehen, da dies den Schlaf durcheinander bringen kann.
Welche Formen von Schlafstörungen gibt es?
Unter Schlafstörungen werden viele verschiedene Krankheiten zusammengefasst, die völlig unterschiedliche Mechanismen aufweisen. Die Folgen sind tagsüber spürbar: Müdigkeit, schlechte Laune, Konzentrations- oder Gedächtnisprobleme. Hypersomnie bezeichnet das umgekehrte Phänomen: Die Betroffenen schlafen bis zu zwölf Stunden pro Nacht, ohne sich jemals ausgeruht zu fühlen. Dann gibt es Atemwegserkrankungen, wie etwa Schlafapnoe. Und motorische Störungen, die häufig die Beine betreffen: Man hat vor dem Einschlafen das Bedürfnis, die Beine zu bewegen, wodurch man nur schwer einschlafen kann.
Es handelt sich also um sehr unterschiedliche Probleme. Wie werden diese Störungen behandelt?
Der erste Schritt besteht darin, eine Diagnose zu stellen, um die Störung zu identifizieren. Dazu muss man eine sorgfältige Beurteilung des Schlafs der Person, ihres Tagesablaufs und ihrer Lebensweise vornehmen, um Anzeichen und Symptome zu erkennen, die uns eine Orientierung geben können. Manchmal reicht das aus, wie etwa bei Schlaflosigkeit. In anderen Fällen sind weitere Untersuchungen erforderlich, die nachts oder tagsüber stattfinden können. Dies ist der Fall, wenn der Verdacht auf Schlafapnoe besteht oder wenn Personen über Hypersomnie oder Schläfrigkeit klagen.
Und wie sieht es mit der Behandlung aus?
Die Behandlung hängt von der jeweiligen Krankheit ab. Menschen mit neurologischer Hypersomnie erhalten eine medikamentöse Behandlung mit Mitteln, die dafür sorgen, dass sie wacher sind. Bei Schlaflosigkeit hingegen werden keine Medikamente eingesetzt, sondern stattdessen Verhaltens- und kognitive Therapien angeboten, um dem Patienten das Schlafen wieder beizubringen. Bei Personen, die an Schlafapnoe leiden, erfolgt die Behandlung mechanisch mit Maschinen, die Luft mit einem bestimmten Druck einblasen, um Atempausen zu verhindern. Es gib auch Schienen, die den Kiefer einige Millimeter nach vorne schieben, um Platz zu schaffen und die Atemwege freizumachen.
Wann sollte man zum Arzt gehen?
Wenn man der Meinung ist, dass ein Schlafproblem die Funktionsfähigkeit, die Lebensqualität oder die Gesundheit beeinträchtigt. Es ist wichtig, sich Hilfe zu holen, denn es gibt Behandlungen, die gut funktionieren.