Der verstümmelte Gruss: Ein Abschied an die Etikette
Fast alles hat ein Ende. Mal abgesehen vom Universum. Das Leben, die Geduld, meine Lieblingsserie, eine Konversation. Irgendwann kam ein Mensch auf die Idee, das Ende eines Gesprächs besiegeln zu müssen. Mit einem Händedruck, einer Umarmung oder gar einem Kuss. Und im schriftlichen Verkehr: mit dem lieben, dem freundlichen oder gar dem besten Gruss. Die Misere nahm ihren Lauf.
Ein noch findigerer Mensch als der erste es war, verspürte nämlich den Drang, die Grussformeln abzukürzen. Dieser Unfall muss in den 1990ern passiert sein, einem Jahrzehnt, das nicht nur wegen der Mode in Erinnerung geblieben ist für schlechten Stil. Aus «Mit freundlichen Grüssen» wurde «MfG», aus den lieben Grüssen «LG».
Jeden Tag schafft er es nun dutzende Male in meine Inbox, der verstümmelte Gruss, eingestampft zu zwei Buchstaben, eine Manifestation der sprachlichen Verwahrlosung. Geschätzt 90 Prozent meiner Kolleginnen und Kollegen besiegeln mit «LG» das Ende einer Mail, der Chef inklusive. Noch grausamer aber die Kreation LiGru. Ein besonders einfallsreicher Kopf denkt wohl, damit lege er noch ein Quäntchen Anstand an den Tag.
Das Gegenteil ist der Fall. Abgekürzte Grussfloskeln suggerieren bei mir fehlende Wertschätzung: Für Rahel nehme ich mir nicht mal zwei Sekunden, den Gruss auszuschreiben. Bei ihr pfeife ich auf Etikette, schliesslich habe ich Wichtigeres zu tun.
Vielleicht sollten es diese Kollegen mit dem schriftlichen Gegrüsse ganz lassen, anstatt sich an abstrusen, unpersönlichen Abkürzungen festzuklammern. In Amerika ist das längst Standard.
Das würde zwar das definitive Ende des gepflegten Umgangs bedeuten. Aber es wäre ehrlicher.