England hat einen deutschen Nationaltrainer – und findet: «Wir sind die Lachnummer!»
Muss der leitende Angestellte eines Fussball-Nationalteams die Hymne mitsingen? Die weltbewegende Frage beschäftigt die Fans im Mutterland des beliebten Ballsports, seit die englische Football Association (FA) diese Woche Thomas Tuchel als neuen Cheftrainer von Januar an verpflichtete. Ein Deutscher trainiert die Three Lions – geht denn das?
Überhaupt nicht, fand das rechtsreaktionäre Blatt «Daily Mail» und feuerte mehrere Breitseiten auf die Verantwortlichen. «Ein schwarzer Tag für den englischen Fussball» habe man erlebt: «Wir sind die globale Lachnummer.» Ein weiterer Artikel erging sich in düsteren Anspielungen auf Tuchels vermeintlich «buntes Liebesleben», stets ein Lieblingsthema der bekanntermassen harten Londoner Boulevardblätter.
Hingegen reagierte die Konkurrenz zahm, teilweise begeistert. «Fussball kommt nach Hause» titelte «The Sun» auf Deutsch. Die Übersetzung des englischen Ohrwurms «Football is coming home» drückt die verzweifelte Hoffnung vieler Medien aus, der 51-Jährige möge die Nationalmannschaft endlich zum ersten Titel seit der WM 1966 führen. Vom neuen «Kaiser Chief» schrieb «The Mirror» in Anspielung auf die englische Indierock-Band.
Premierminister Keir Starmer war die prominente Personalie sogar eine Erwähnung im Unterhaus wert: Er werde Tuchels frühere Beschäftigung beim West-Londoner FC Chelsea (2021/2022) «nicht gegen ihn verwenden», scherzte der eingefleischte Fan des Nord-Londoner FC Arsenal im Unterhaus. Allerhöchsten Segen erfuhr die Berufung aus dem Königshaus. Er wünsche «Thomas Tuchel viel Erfolg», liess Thronfolger Prinz William, der FA-Schirmherr, verlauten.
Gänzlich unpolemisch berichtete «The Times» mit einem langen Artikel aus Tuchels «verschlafener» Heimatstadt Krumbach im Allgäu. Der berühmte Sohn des 14’000-Einwohner-Städtchens habe zuletzt wohl Heimweh nach London gehabt, scherzt da ein alter Schulfreund.
London, natürlich. Die Weltstadt zieht seit langem deutsche Fussballer an, von Jürgen Klinsmann (Tottenham) über Jens Lehmann (Arsenal) bis zu Andrè Schürrle (Chelsea, Fulham). In einer einzigen Saison bei den Nord-Londoner Heissspornen räumte Klinsmann mit dem alten Klischee, wonach die Deutschen über keinerlei Humor verfügten, auf. Zu Hunderttausenden erlebten englische Fans das Land im Herzen Europas 2006 bei der WM als freundlich und weltoffen.
Der beste Fussball-Botschafter des vergangenen Jahrzehnts war ohne Zweifel Jürgen Klopp. Während seiner neun Jahre als Cheftrainer führte er den FC Liverpool nicht nur zur lang entbehrten Meisterschaft und zum Gewinn der Champions League. Er vermittelte den Aficionados auf der Insel auch die Gewissheit, dass deutsche Fussball-Lehrer in Sachen Taktik und Ausbildung auf der Höhe der Zeit sind.
Seither haben Daniel Farke (Norwich, Leeds), David Wagner (Huddersfield, Norwich) als Coaches englischer Premier League-Clubs gearbeitet; in seiner ersten Saison beim südenglischen Club Brighton macht der Halb-Schweizer Fabian Hürzeler dortbella figura. Auch Tuchel ist ein alter Bekannter, führte er doch den FC Chelsea 2021 zum Gewinn der Champions League.
Nun also das Nationalteam. Was für Österreicher und Schweizer längst Routine ist, haben auch die Engländer bereits zweimal erlebt: Im Jahr 2000, nach einer Serie überaus erfolgloser Engländer, heuerte die FA den Schweden Sven-Göran Eriksson an. Dementsprechend wurde der international erfahrene Fussballlehrer mit Vorschusslorbeeren überschüttet. Zudem hatten die Boulevardblätter Freude an den vielfältigen Amouren des charmanten Schweden. Freilich war bei der WM 2002 und 2006 jeweils im Viertelfinale Schluss. «Ein Fehlschlag, und ein gewaltig teurer zumal», mäkelte hinterher BBC-Fussballexperte Phil McNulty.
Ähnlich negativ fielen die Kommentare nach der Amtszeit des Italieners Fabio Capello (2007–2012) aus. Seither haben wieder Engländer die Three Lions trainiert, Gareth Southgate immerhin acht Jahre lang. «Er hat uns von einem Viertelfinal-Team zu einer Mannschaft gemacht, die ins Halbfinale oder gar ins Finale kommt», weiss der Sportsoziologe Mark Perryman von der Uni Brighton. Zum Sieg aber fehlte es in den EM-Finalen 2021 gegen Italien und 2024 gegen Spanien dann doch.
Für seine Nachfolge kam kein Engländer ernsthaft in Betracht – insofern immerhin besitzt der Klageruf der «Mail» Substanz: Das Mutterland des Fussballs hat es versäumt, international erfolgreiche Trainer auszubilden. Die Premier League ist unangefochten die wichtigste Liga der Welt, die Stars aber werden von Spaniern, Holländern und Italienern trainiert – und eben von Deutschen.
Thomas Tuchel hat übrigens die Gewissensfrage nach seiner Sangesfreude mit der Mitteilung beantwortet, er müsse darüber noch mal nachdenken. Das mag man, je nach Gemütslage, für feine Diplomatie oder Feigheit vor dem Boulevard-Feind halten. Für Gesprächsstoff ist jedenfalls weiterhin gesorgt.