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Jeder dritte Jugendliche macht regelmässig blau: Gibt es ein Recht aufs Schulschwänzen?

Bildungswissenschaftlerin Margrit Stamm über Jugendliche und ihr zunehmend distanziertes Verhältnis zur Schulpräsenz.

Hand aufs Herz – wer hat während der Schulzeit nicht mal blaugemacht und den Unterricht für ein paar Stunden geschwänzt? Für nicht wenige gehört Schulschwänzen zum guten Ton, zum notwendigen Repertoire eines emanzipierten Schülers.

Ist Schulschwänzen somit lediglich ein Kavaliersdelikt? Müssen sich Schulen damit abfinden? Sollen Eltern nachsichtig sein, wenn die Tochter mal keinen Bock auf Schule hat und im Bett bleibt?

Nein, Schulschwänzen mag harmlos sein, wenn es sehr selten vorkommt. Aber unsere Studien zu Schulabsentismus und Schulabbruch wie auch Daten aus den Pisa-Studien machen mehr als deutlich: Schwänzen ist verbreitet. 33 Prozent machen regelmässig blau, fast 8 Prozent sind massive Schulschwänzer. Ihr locker scheinendes Schwänzen kann in eine grössere Schuldistanzierung münden, verbunden mit schlechten Leistungen. Das führt meistens zum Ausklinken aus dem Schulbetrieb. Massiver Absentismus ist der Risikomarker für eine gefährdete Bildungslaufbahn.

Die wichtigsten Motive sind eindeutig

Die Schulpflicht verbietet das Schwänzen. Warum bleiben Heranwachsende trotzdem der Schule fern? Zu den häufigsten Motiven zählen Schulverdruss, Leistungsvermeidung, schlechte Beziehungen zu Mitschülern und Lehrpersonen sowie familiäre Probleme. Langweiliger Unterricht gehört ebenso dazu. Auch intelligente, aber unterforderte Schülerinnen und Schüler neigen zu Schulabsentismus. Doch trotz verpasstem Unterricht sind sie in der Lage, genügende bis gute Schulleistungen zu erbringen.

Seit der Pandemie stellt ein neues Phänomen Schulen vor besondere Herausforderungen. Heranwachsende – deutlich mehr Mädchen als Knaben – bleiben zunehmend aus psychischen Gründen dem Unterricht fern. Sie tun dies nicht mehr heimlich, sondern berichten unter anderem auf Social Media, vor allem auf Tiktok, darüber. Meist sei es der Leistungsdruck der Schule, der ihnen keine andere Wahl lassen würde, sagen sie. Andere erwähnen ihre Eltern, die gute Noten wollten und sie deshalb fürs Lernen die Schule schwänzen lassen würden. Auch Depressionen und Panikattacken spielen eine Rolle, wobei es sich nicht selten um Selbstdiagnosen handelt. Geht es um Schulabsentismus, wirkt Tiktok sozial ansteckend.

Was können Schulen, Familien und Bildungspolitik tun? Grundlegend ist die Erkenntnis, dass Schwänzen zu einem fundamentalen Problem zu werden droht. Wichtig sind Schulleitungen, welche die Haltekraft ihrer Schule betonen und Absentismus sowie ein einheitliches Absenzensystem zur Chefsache erklären. Das muss für alle an der Schule Tätigen verbindlich sein. Zudem sind Schulleitungen bemüht, dass sich Lehrkräfte schnell um abwesende Schülerinnen und Schüler kümmern und den Kontakt mit den Erziehungsberechtigten suchen. Auch dann, wenn eine Kontaktaufnahme schwerfällt, weil die Familie den Sprössling deckt.

Allein können Schulen solche Herausforderungen nicht meistern. Gerade für psychisch bedingte Absentismusformen brauchen sie mehr und früh einsetzende Unterstützung und Entlastung von fachlicher Seite. Ebenso liegt die Verantwortung beim Elternhaus. Unsere Studie zeigt: Je intensiver sich Väter und Mütter interessieren, wo ihr Kind ist, je ausgeprägter sie wissen, was in der Schule läuft und je aktiver sie am Leben des Kindes teilnehmen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit massiven Schulschwänzens.

Absentismus ist die negativste Form schulischer Partizipation. Abwarten, Wegschauen und Ignorieren verstärkt ihn und wirkt so, als gäbe es ein Recht aufs Schulschwänzen. Die Bildungs- und Gesundheitspolitik sollte sich deshalb nicht nur auf Merkblätter zum Schulabsentismus beschränken, sondern eine öffentliche Debatte lancieren. Das Problem und seine Bekämpfung müssen zu einer pädagogischen und erzieherischen Herausforderung werden. «Education to go» – mein Podcast aufmargritstamm.ch– greift solche Themen auf.