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Sprüche, Belästigungen, Übergriffe: Armeechef muss sich für massiven Sexismus in der Truppe rechtfertigen

Fast jede Frau hat in der Armee schon Diskriminierung und sexualisierte Gewalt erlebt. Das sei Teil der Kultur, zeigt eine Studie. Aufgeschreckt ist auch die Armeespitze. Doch das Problem lässt sich nicht so leicht lösen.

Sexistische Sprüche, Belästigung, Vergewaltigung. Seit Jahren sorgen Berichte von Frauen im Militär für Aufsehen. Lange Zeit tat die Armee das als Einzelfälle ab. Erst unter Armeechef Thomas Süssli bekannte sie sich 2023 zur Nulltoleranz-Strategie. «Wir wollen, dass konsequent dagegen vorgegangen und vor allem nicht weggeschaut wird», sagte Süssli in einem von der Armee produzierten Video auf der Internetplattform Youtube.

Bereits ein Jahr davor schuf die Armee eine Fachstelle für Frauen. Deren Motto: «Eine Armee für alle.» Sie trage die Verantwortung, «eine Kultur zu schaffen, in der bewusst, respektvoll und gewinnbringend mit Vielfalt umgegangen wird», lautete die vollmundige Ankündigung.

Armeechef Süssli erklärt die Nulltolerenz-Strategie.

So weit die Theorie. In der Realität ist das Gegenteil der Fall.

Erstmals hat eine Studie im Auftrag der Armee umfassend untersucht, wie es um Diskriminierung und sexualisierte Gewalt in der Schweizer Armee steht. Sie zeichnet ein erschreckendes Bild der Zustände der Truppen: «Anzügliche Sprüche, obszöne Gesten oder körperliche Übergriffe» seien «so im Alltag integriert», dass sie «gar nicht bemerkt oder problematisiert» werden, heisst es darin.

Teil der Kultur

Dabei räumt die Studie auch mit der Vorstellung auf, es handle sich um Einzelfälle. Das Problem ist strukturell. Punkt. Diskriminierung und sexualisierte Gewalt seien «mit der Organisationskultur der Schweizer Armee verflochten».

Basis der Studie ist eine anonyme, vom Institut YouGov Schweiz durchgeführte Befragung im Frühjahr 2023 unter 1126 Militärangehörigen – 764 Frauen und 362 Männer. Sie gaben Auskunft zu ihren Erfahrungen während ihrer Dienstzeit. Jede zweite befragte Person berichtet von Diskriminierung und 40 Prozent geben an, selbst sexualisierte Gewalt erlebt zu haben – sei es verbal, nonverbal oder körperlich. Die Ergebnisse sollten «ein Weckruf» sein, schreiben die Autoren.

Mit Spannung war deshalb der Auftritt von Armeechef Thomas Süssli am Donnerstagnachmittag erwartet worden. Er zeigte sich vor den Medien erschrocken über die Resultate. «Sie sind nicht akzeptabel.» Es gebe keinen Platz für Diskriminierung und sexualisierte Gewalt. «Wir müssen mehr unternehmen, um die Prävention und den Schutz zu verstärken.»

Die Armeespitze kündigte ein Bündel an Massnahmen an. Im Bereich der Prävention möchte die Armee auf Stufe Zug und Kompanie einen Kodex und Ausbildungsmodule schaffen. Auch soll ein anonymes Meldetool eingeführt. Weiter schwebt der Armee eine Stärkung der Opferrechte vor. Wie etwa der Aufbau eines Reporting von Disziplinarfällen aufgrund von sexualisierter Gewalt.

Eine Zwischenevaluation über diese Massnahmen ist 2026 geplant. Ein Jahr später sollen die Armeeangehörigen dann erneut befragt werden, um zu schauen, ob sich etwas verbessert hat.

Zweifel an Massnahmenkatalog

Bleibt die Frage: Reicht das, «um die Armee zu einem Ort werden zu lassen, an dem ein vertrauensvolles, verlässliches und respektvolles Miteinander sichergestellt ist»? Denn die Durchschnittswerte, wonach jeder zweite Armeeangehörige diskriminiert werde, vermitteln ein falsches Bild. Wer männlich, weiss, stark und selbstdiszipliniert ist – gemäss Forschungsliteratur das soldatische Ideal – erfährt selten eine Form der Abwertung.

Dagegen ist die Betroffenheit bei jenen Personen viel grösser, wenn sie nicht den vorherrschenden Normen in der Schweizer Armee entsprechen. Laut Studie sind das all jene, die nicht männlich, heterosexuell und/oder cis sind oder deren Körper, Hautfarbe, Herkunft oder Religion abweicht. Ihnen werde signalisiert, dass für sie kein Platz in der Armee sei, sagt Mahide Aslan, Chefin der Frauen-Fachstelle in der Armee.

Zwischen den einzelnen Gruppen gibt es grosse Unterschiede.
Zwischen den einzelnen Gruppen gibt es grosse Unterschiede.VBS

So haben rund 95 Prozent der befragten Frauen Situationen erlebt, die als sexualisierte Gewalt eingestuft werden können. Die Liste grenzüberschreitendem Verhalten ist lang: Sexistische Sprüche, sexuelle Belästigung, aufdringliche Blicke, hemmungsloses Anstarren, Exhibitionismus, körperliche Übergriffe beim Duschen und beim Schlafen, ungewollte Berührungen und Küsse, wie auch in seltenen Fällen versuchte und ausgeführte Vergewaltigungen.

Ähnlich hoch ist die Betroffenheit auch bei nicht heterosexuellen Männer, etwas weniger stark bei trans Männern und trans Personen (70 Prozent). Wenig überraschend gehören homophobe Begriffe zum Truppenalltag. Ein Offizier formuliert es so: «Derjenige, der die Rekrutenschule abgeschlossen hat, ohne mindestens einmal als ‹Schwuchtel›, ‹Tunte› oder dergleichen bezeichnet worden zu sein, hebe die Hand.»

Obwohl Vorfälle an der Tagesordnung sind, werden diese gemäss Studie kaum gemeldet. Mehr als die Hälfte der Personen, die selbst potenziell sexualisierte Gewalt erlebt hat, informiert die Armee nicht darüber. Als Hauptgrund geben die Befragten an, solche Dinge mit sich selbst auszumachen. 40 Prozent gingen davon aus, dass es mit einer Meldung «nur noch schlimmer geworden» wäre. Ein Drittel hatte das Gefühl, das wäre chancenlos gewesen oder wusste nicht, an wen sie sich hätten wenden können.

Armee schützt Betroffene nicht

Die Befragten erachteten die Armee deshalb nicht als Organisation, die sie bei solchen Vorfällen schützt. Als Beleg dient den Studienautoren auch, dass Meldungen oft nicht erst genommen oder Vorfälle gar vertuscht würden.

Selbst an gewissen Aspekten der Nulltoleranz-Strategie der Armeeführung übt die Studie Kritik. Dazu gehöre die Vorstellung, in der Armee seien alle in derselben Uniform und daher gleich. Es zähle nur die Leistung und nicht das Geschlecht. Diese Narrative verhinderten, dass bestehende Unterscheidungen, auf denen Abwertungen beruhen, gesehen und abgebaut werden könnten.

Die Studie wehrt sich auch dagegen, sexistische Sprüche zu verharmlosen. Würden diese als normal und ungefährlich angesehen, bereiteten sie den Boden für noch schwerwiegendere Formen sexualisierter Gewalt. Dies verdeutliche Aussage einer Soldatin. «Mit blöden Witzen, Äusserungen und gewissen Bemerkungen fängt es an. Man bekommt via Natel Nachrichten, sexuelle Anfragen, Sex-Videos etcetera. Sexuelle körperliche Belästigung folgt als Nächstes.»