Der wahr gewordene Albtraum: Was die Bahnhofskatastrophe in Serbien auslöst
Es war wie der wahr gewordene Albtraum. Videoaufnahmen zeigten, wie innerhalb zwei Sekunden das etwa 70 Meter lange Bahnhofsvordach von Novi Sad kollabierte. Wer sich darunter befand, hatte keine Chance. Vierzehn Tote forderte die Katastrophe, unter ihnen zwei Kinder. Drei junge Erwachsene mit schweren inneren Quetschverletzungen kämpften am Montag auf der Intensivstation ums Überleben.
Die Folgen des Einsturzes vom Freitag sind für Serbien dramatisch – in jeglicher Hinsicht. Die Bergungsarbeiten waren noch im Gange, da hielt der Lokaljournalist Igor Mihaljevic im TV-Sender N1 eine Wutrede: «Das ist kein Unglück, das ist ein Verbrechen.» Mihaljevic drückte aus, was viele sofort dachten. Hier müssen Korruption oder Schlamperei oder eine Kombination von beidem im Spiel gewesen sein.
Erst im Juli war die zweite Phase der Erneuerungsarbeiten am Bahnhof offiziell für abgeschlossen erklärt worden: Der historische Betonbau von 1964 wird für die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke instand gesetzt, die künftig Budapest mit Belgrad und Athen verbinden soll und unter chinesischer Bauherrschaft vorangetrieben wird.
Entsprechend war das Urteil der serbischen Öffentlichkeit in den Stunden nach dem Einsturz schnell gefällt: Die Schuld müsse neben korrupten Staatsbeamten bei den chinesischen Grosskonzernen CRIC und CCCC liegen, die für die Umsetzung dieser Teilstrecke des Neuen-Seidenstrasse-Projekts verantwortlich sind. Am Sonntagabend gingen in Belgrad Tausende unter dem Motto «Korruption tötet» auf die Strasse, um vor dem Bau- und Infrastrukturministerium zu protestieren.
Die Bürgerrechtsbewegung Vorwärts-Veränderung reichte am Montaglaut Angaben des Nachrichtenportals 021 Klageeine Klage bei der Oberstaatsanwaltschaft von Novi Sad gegen Staatspräsident Aleksandar Vucic, Parlamentspräsidentin Ana Brnabic und Premierminister Milos Vucevic ein. In einem Büro der Präsidentenpartei SNS wurden die Fensterscheiben eingeschlagen und der Schriftzug «Mörder» angebracht.
Diese Vorgänge erinnern stark an die landesweiten Proteste im Mai 2023, alsnach zwei Amokläufen innerhalb von 24 Stunden18 Menschen erschossen wurden und Zehntausende gegen die von staatlicher Seite geförderte Gewalt demonstrierten. Anschliessend gab Vucic den SNS-Parteivorsitz ab, hielt sich aber konkurrenzlos im Präsidentenamt.
Am Vordach wurden gar keine Strukturarbeiten durchgeführt
Wenngleich sich die serbische Zivilgesellschaft erneut auf der Strasse eindrücklich behauptet, sind inzwischen ernsthafte Zweifel an der Korruptionsthese aufgetaucht – zumindest was die angebliche chinesische Verwicklung angeht.
Drei Tage nach dem Unglück gilt es als sehr wahrscheinlich, dass am Vordach während der jüngsten Sanierungsphase gar keine Strukturarbeiten vorgenommen wurden. Vielmehr hätten sich die Bauarbeiten der chinesischen Firmen auf die Gleis- und Perronerneuerung im Bahnhofsinneren beschränkt, was CRIC und CCCC in Stellungnahmen bekräftigten.
Fachleute vermuten vielmehr, dass am Freitag schlicht die alte, noch zu Titos Zeiten errichtete Betonstruktur nachgab. Durchgerostete Armierungseisen könnten da eine Rolle gespielt haben, wie auf Bildern zu erkennen war. Entsprechend prompt folgte die Reaktion auf Behördenseite: Staatspräsident Vucic verurteilte die «Stimmungsmache», versprach aber eine Strafuntersuchung mit der Fragestellung, weshalb sechzig Jahre lang am Bahnhofsvordach nichts getan worden sei.
Premier Milos Vucevic, der sich pikanterweise derzeit in Schanghai aufhält, geisselte auf Nachfrage von Journalisten die «antichinesische Hysterie» im eigenen Land, die lediglich aus politischen Gründen geschürt werde: «Sollen wir jetzt alle chinesischen Bauarbeiter verhaften?», spottete der Vucic-Vertraute und bezeichnete diejenigen als «echte Monster» welche die Mordthese in Umlauf gesetzt hätten.
Gar alte Ressentiments schürte das regierungstreue Kampfblatt «Politika»: Kroatische Medien würden das Unglück von Novi Sad zur «subversiven» Desinformation nutzen und die serbische Bevölkerung zu gewalttätigen Protesten aufstacheln,hiess es am Montag in zwei Artikeln.