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Schon wieder: Gerichtshof für Menschenrechte rüffelt die Schweiz – es geht um einen homosexuellen Iraner

Die Schweiz glaubt nicht, dass ein homosexueller Asylsuchender in seiner Heimat unmittelbar in Gefahr ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht dies anders.

Das Urteil sorgte für hitzige Debatten: Im Frühling gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg den Klimaseniorinnen Recht. Die Schweiz unternimmt zu wenig, um ältere Frauen vor den Auswirkungen der Erderwärmung zu schützen. Im September verurteilte Strassburg die Schweiz, weil sie einen Drogenkurier aus Bosnien ausgeschafft hatte. Sie habe dessen Recht auf Familienleben nicht berücksichtigt.

Jetzt kassiert die Schweiz erneut einen Rüffel. Sie muss noch einmal prüfen, ob einem homosexuellen Asylsuchenden aus dem Iran wirklich keine unmenschliche Behandlung droht, falls er in seine Heimat ausgeschafft wird.Dies geht aus einem am Dienstag publizierten Urteil hervor.

Der heute 34-jährige Mann stellte im Frühling 2019 ein Asylgesuch in der Schweiz. Er gab an, sein Vater und andere Familienmitglieder hätten ihn beschimpft und geschlagen, nachdem sie von seiner Homosexualität erfahren hatten. Und sie wollten ihm schaden. Zuerst floh der Mann in die Türkei, schliesslich begab er sich in die Schweiz.

Homosexualität wird in vielen Ländern strafrechtlich verfolgt, im Iran droht sogar die Todesstrafe. Die Schweiz hat in der Vergangenheit einigen homosexuellen Personen aus muslimischen Ländern Schutz gewährt, weil ihnen bei einer Rückkehr Gefahr von Seiten ihrer Familie und/oder den Behörden gedroht hätte.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hält in seinem Handbuch zum Asylwesen aber auch fest: «Die Tatsache, dass die Gesetzgebung eines Landes homosexuelle Handlungen mit Strafe belegt, wiegt allein noch nicht so schwer, dass sie als Verfolgung zu betrachten ist.» Der Vollzug einer Gefängnisstrafe für homosexuelle Handlungen stelle indes eine Verfolgungsmassnahme dar.

Gerüchte, keine Heirat, keine Kinder

Das SEM bezweifelte nicht, dass der Iraner homosexuell ist. Es hielt aber für unglaubwürdig, dass jemand ausserhalb der Familie und der LGBTQ-Community über dessen sexuelle Orientierung erfahren würde. Und dass der Mann nicht in Gefahr geraten würde, falls er sein Privatleben weiterhin diskret führt. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte den Entscheid im Juni 2021.

Der Iraner legte dagegen Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein; die Wegweisung wurde sistiert. Jetzt hat Strassburg den Rekurs gutgeheissen. Das Risiko, dass die Homosexualität entdeckt werde, beschränke sich nicht zwingend auf das eigene Verhalten. Es könnten immer Gerüchte die Runde machen. Auch wenn man gegen soziale Normen verstosse – keine Heirat, keine Kinder – könne man unter Druck geraten. Zudem könne der Zwang, seine sexuelle Orientierung zu verheimlichen, psychische Schäden hervorrufen.

Der Gerichtshof kommt deshalb zum Schluss: Die Schweiz hat nicht genügend abgeklärt, ob der Mann im Iran wirklich nicht riskiert, unmenschlich behandelt zu werden. Die Behörden müssen damit diese Frage neu prüfen.

Allerdings ist das Urteil des Gerichtshofs ist noch nicht rechtskräftig. Das Bundesamt für Justiz wird es jetzt analysieren und nach Konsultation der betroffenen Behörden prüfen, ob die Schweiz den Fall an die Grosse Kammer des Gerichtshofs weiterziehen soll. Die Frist für einen Weiterzug beträgt drei Monate.