«Alle Kriegsverbrechen gehören verfolgt» – «ungeheuerlich» – die Strafverfolgung von Netanyahu spaltet die Schweiz
Das Vorgehen provoziert gehässige Reaktionen: Die Richter des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag haben gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu und den früheren israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant Haftbefehl erlassen. Das Gericht hält dem Ministerpräsidenten vor, der Bevölkerung in Gaza lebensnotwendige Güter wie Nahrung, Wasser, Medikamente und Strom vorzuenthalten. Auch die humanitäre Hilfe sei ungenügend.
Gleichzeitig geht der Internationale Strafgerichtshof gegen den vermutlich bereits getöteten Hamas-Militärchef Mohammed Deif vor.
Für die langjährige Aussenpolitikerin und Mitte-Ständerätin Marianne Binder ist das Vorgehen «ungeheuerlich», wie sie sagt. «Damit stellt der Strafgerichtshof einen demokratisch gewählten Präsidenten eines Rechtsstaates auf die gleiche Stufe wie einen Hamas-Terroristen oder den Kriegstreiber Putin.» Dass Netanyahu bestimmt auch eine umstrittene Person sei, zeigten die Debatten oder die Kritik an ihm in Israel selber, beispielsweise an der Siedlungspolitik. Aber letztlich gehe es um das Existenzrecht Israels gegen die ständigen Attacken von Terrororganisationen wie die Hamas oder die Hisbollah. «Unter der Fuchtel dieser Organisationen leiden die Zivilbevölkerung in Gaza oder auch im Libanon ebenso.»
Unterschiedliche Einschätzung der Politik
Aussenpolitiker und FDP-Ständerat Damian Müller sagt, er respektiere die Unabhängigkeit des Strafgerichtshofs. «Für mich ist es vorrangig, eine Einstellung der Feindseligkeiten im Konflikt zu erreichen.» Dieser Haftbefehl giesse aber Öl ins Feuer und stärke die Unterstützung des israelischen Premierministers in der Bevölkerung. Das Gericht müsse aufpassen, dass es sich nicht politisch instrumentalisieren lässt, weil es ansonsten seine Glaubwürdigkeit riskiert. «Das ist bedauerlich, denn am Ende sind es die Opfer, die unter dem Mangel an Gerechtigkeit leiden.»
Komplett anderer Meinung ist SP-Co-Präsident Cédric Wermuth. Er lässt auf dem sozialen Netzwerk X verlauten, der Haftbefehl gegen Netanyahu wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen sei «richtig»: «Alle Kriegsverbrechen gehören verfolgt, egal, wer sie begeht.»
Auch die Grünen halten das Vorgehen für konsequent, wie der Genfer Nationalrat und grüne Aussenpolitiker Nicolas Walder auf Anfrage angibt. «Der Gerichtshof tut das, wofür er eingerichtet wurde: Er trägt dazu bei, die Durchsetzung des Völkerrechts zu stärken, indem er Licht auf potenzielle Verbrechen wirft.» Es sei gut, dass sich die Richter nicht dem internationalen Druck gebeugt hätten.
Verhaftung mit einem grossen Aber
Die innenpolitische Diskussion ist insofern relevant, als sich die Frage stellt, wie die Schweiz mit dem Haftbefehl umgeht. Denn die unmittelbare Konsequenz für Netanyahu ist, dass er sich nicht mehr frei in der Welt bewegen kann. Was passiert aber, wenn er ans WEF in Davos reisen will? Oder an eine Friedenskonferenz in Genf?
Das zuständige Justizdepartement gibt an, die Schweiz unterstütze den Internationalen Strafgerichtshof, seine Unabhängigkeit sowie den Kampf gegen die Straflosigkeit in jeder Situation. Die Schweiz habe das Römer Statut, die rechtliche Grundlage des Strafgerichtshofs, 2001 ratifiziert und ist verpflichtet, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Das bedeutet, dass die Schweiz Benjamin Netanyahu oder auch andere Beschuldigte mit Haftbefehl bei einer Einreise in die Schweiz «grundsätzlich» verhaften und die Auslieferung an den Internationalen Strafgerichtshof einleiten, wie das Justizdepartement schreibt. Doch nun kommt das grosse Aber: «Betrifft der Haftbefehl ein amtierendes Staats- oder Regierungsoberhaupt, das nach dem Völkerrecht Immunität geniesst, so entscheidet der Bundesrat auf Antrag des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements über die Immunitätsfragen, die sich bei der Vollstreckung eines Ersuchens stellen.»
Mit anderen Worten: Die Verhaftung von Netanyahu und anderen Regierungschefs ist letztlich ein politischer Entscheid.