«Gut gemacht!»: Wieso uns Lebensmittel jetzt loben und warum das gar nicht so gut ist
Sie dürften es auch schon bemerkt haben: Gewisse Lebensmittel in den grossen Schweizer Supermärkten sind in den letzten Jahren bemerkenswert vorlaut geworden. Ihre Verpackungen sprechen uns direkt an, im wörtlichen Sinn. «I’m your meal» heisst die Trinkmahlzeit, die Emmi letzten Frühling lancierte. «Für dein Wohlbefinden» oder «Fühle dich in Balance» ist auf den Smoothies der Marke Innocent zu lesen.
Andere Marken sind noch geschwätziger. Alpro etwa, der bekannte Hersteller von Milchersatzprodukten, verkündet auf seinen Milchkartons: «Werde Teil der pflanzlichen Revolution.» Weiter beglückwünschen die Kartons vorsorglich jene, die zugreifen. «Glückwunsch, gute Wahl! Du hast dich für einen Drink ohne Zucker entschieden, der von Natur aus arm an gesättigten Fettsäuren ist», lobt eine Hafermilch. Ein Soja-Kakao-Drink rühmt das Umweltbewusstsein seiner Kundschaft: «Gut gemacht! Du hast dich für diesen leckeren Drink mit Rainforest Alliance zertifiziertem Kakao und Soja ohne Gentechnik oder Abholzung entschieden.»
Warum die Forschheit? Nun, auffällig ist, welche Lebensmittel es sind, die unmittelbar aus dem Regal heraus zu ihren potenziellen Konsumentinnen und Konsumenten reden. Als Alltagsprodukte sind Trinkmahlzeiten und Milchalternativen relativ neu. Wie Smoothies richten auch sie sich an ein tendenziell hippes, progressives Publikum. Dabei bieten diese Produkte weitaus mehr als nur ein Sättigungsgefühl. Sie versprechen schnellen Konsum, gesunden Konsum und/oder umweltbewussten Konsum.
Moralischer Vorteil für die korrekt Konsumierenden
Die Idee von Konsum als moralische Entscheidung wird mit der direkten Ansprache durch die Produkte ausformuliert: Gratulation an alle Gesundheitsbewussten, Umweltbewussten, die sich durch den Kauf solcher Produkte integer verhalten und damit Verantwortung übernehmen. Dem eigenen Körper gegenüber, aber natürlich auch der Welt. Umgekehrt bedeutet in dieser Logik die Entscheidung gegen den Kauf eines solchen Produkts ein Verschulden. Eine Absage an die Verantwortung dem eigenen Körper sowie der Welt gegenüber. Wer keinen Ablassbrief erwirbt, bleibt Sünder.
Relativ deutlich ausgesprochen wird das von Coop. 2013 führte der Lebensmittelhändler die vegetarische Linie «Karma» ein. Quinoa-Salate, Falafel-Sandwiches, Tofu-Blöcke und dergleichen, auf denen die Begriffe «vegetarisch» oder «vegan» prangen. Anfänglich zählte die «Karma»-Linie rund fünfzig Produkte, heute sind es mehr als 300.
Bekanntlich ist Karma der Name des spirituellen, indischen Konzepts, das besagt, dass jede Handlung eines Menschen sich auswirkt auf dessen Karma, gewissermassen sein Moralkonto. Wer sich gut verhält, verbessert das eigene Karma und erhöht seine Chance auf eine glückliche Wiedergeburt. Wer sich schlecht verhält, verdirbt sich das Karma und muss sich auf ein unglückliches nächstes Leben einstellen. Folgerichtig teilen die «Karma»-Produkte mit: «Dein Karma liebt dich. Und du wirst Karma lieben: weltoffen und natürlich vegetarisch.» Eine Linie mit vergleichbaren Produkten, die von der Coop-Konkurrentin Migros betrieben wird, trägt den Namen «You».
Selbstschuld als «unsichtbares Dogma der Gegenwart»
Ist das problematisch? Ja, würden wohl die «Zeit»-Journalistin Ann-Kristin Tlusty und der Podcaster Wolfgang M. Schmitt sagen. Die beiden Deutschen haben kürzlich den Sammelband «Selbst schuld!» herausgegeben, der davon ausgeht, dass die «Schuld-Ideologie» ein «unsichtbares, lediglich selten thematisiertes Dogma der Gegenwart» sei, das jedoch «in nahezu alle Lebensbereiche vordringt».
Gängige Beispiele wären das Klischee, dass Arme ihre Armut hätten vermeiden können, wären sie nur mit dem richtigen «Mindset» vorgegangen; dass Personen, die sexualisierte Gewalt erleiden, diese hätten verhindern können, hätten sie sich nur weniger aufreizend angezogen; dass sich der Klimawandel stoppen liesse, wenn nur der einzelne Mensch bewusster konsumierte.
Dass solche Argumentationen grössere Zusammenhänge ausblenden, ist klar. Tlusty und Schmitt sehen darin eine gezielte Verblendung: «Die Zuschreibung von Schuld an Einzelne ist ein grundlegender Mechanismus, um von gesellschaftlichen Missständen und Herrschaftsverhältnissen abzulenken», schreiben sie.
Ob Coop oder Migros oder Alpro tatsächlich von Herrschaftsverhältnissen ablenken wollen, sei dahingestellt. Wohl aber nutzen ihre Produkte mit direkter Ansprache die von Tlusty und Schmitt beschriebene «Schuld-Ideologie». Wer sich ungesund ernährt, «sündigt» am eigenen Körper und riskiert Übergewicht –was bis heute oft als reine Selbstschuld der Betroffenen begriffen wird. Wer umweltschädlich konsumiert, ist ein «Klimasünder». Wie praktisch also, wenn bestimmte Produkte proaktiv darüber informieren, dass ihr Kauf und Konsum von solcher Schuld entlastet.