Kollaps der Regierungstruppen: Islamisten rücken weiter vor, aber Diktator Assad gibt sich kämpferisch
Im strahlenden Sonnenschein schwenkt ein Kämpfer der syrischen Rebellen vor der mittelalterlichen Zitadelle von Aleppo die Fahne der Opposition. Weiter südlich brausen bewaffnete Männer auf Motorrädern und Autos auf die Stadt Hama zu, wie Fotos und Videos im Internet am Sonntag zeigten – von der syrischen Armee, die Aleppo bis vor wenigen Tagen beherrschte, ist nichts zu sehen. Die Rebellen-Offensive in Syrien rollt weiter.
Nachdem die Kämpfer unter Führung der islamistischen Gruppe HTS die nordsyrische Wirtschaftsmetropole Aleppo überrannt haben, stossen sie nun auf Hama zu, das auf dem Weg in die Hauptstadt Damaskus liegt. Die Truppen von Präsident Baschar al-Assad können den Vormarsch nicht stoppen.
Assads Schutzherr Russland und die Türkei als Unterstützerin der Rebellengruppen werden zu Schlüsselmächten in dem Konflikt. Vor vier Jahren hatten sie einen Waffenstillstand in Syrien ausgehandelt, der bis vor wenigen Tagen hielt. Diesmal dürfte eine Einigung schwieriger werden.
Der Kollaps von Assads Armee ist beispiellos in der Geschichte des 2011 ausgebrochenen syrischen Bürgerkrieges: Die Truppen zogen sich fast kampflos zurück. Assad, der alle seine Gegner als Terroristen bezeichnet, drohte am Sonntag nach Angaben des syrischen Präsidialamtes mit einem Gegenangriff: «Der Terrorismus versteht nur die Sprache der Gewalt, und mit dieser Sprache werden wir ihn brechen und vernichten.»
Trotz Assads Warnung konnten die Rebellen am Sonntag weiter vorrücken. Sie standen nach einer Meldung der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu acht Kilometer vor Hama, anderthalb Autostunden südlich von Aleppo und zweieinhalb Stunden nördlich von Damaskus. Die Rebellen brachten bei der Kleinstadt Sarakib die Fernstrasse M5 unter ihre Kontrolle und unterbrachen damit die direkte Landverbindung zwischen Damaskus und Aleppo.
Russische Kampfflugzeuge griffen am Sonntag die Einheiten der Rebellen nördlich von Hama und in der Stadt Idlib an. Auch Assads Partner Iran signalisierte seine Unterstützung. Teheran werde Syrien politisch und militärisch zur Seite stehen, sagte Aussenminister Abbas Araghci, der am Sonntag in Damaskus erwartet wurde.
«Mit der Hilfe von Verbündeten und Freunden» werde er die Rebellen besiegen, sagte Assad nach Angaben des syrischen Präsidialamtes in einem Telefonat mit dem Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Mohammed bin Zayed al-Nayhan. Die VAE spielten in den vergangenen Jahren eine führende Rolle bei Bemühungen, Assads Isolation in der arabischen Welt zu beenden.
Bisher erhält die syrische Regierung nur wenig konkrete militärische Unterstützung. Russlands Armee ist im Ukraine-Krieg gebunden, Hisbollah und der Iran sind durch den Konflikt mit Israel geschwächt. «Es kommen nicht viele ausländische Truppen, um Assad und seine Armee zu retten», sagte der Nahost-Experte Joshua Landis von der Universität Oklahoma in den USA unserer Zeitung.
Erste Kämpfe zwischen Dschihadisten und Kurden
Dagegen läuft es für die Rebellen besser, als sie selbst erwarten konnten. Die Islamisten der ehemaligen Al-Kaida-Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hätten in wenigen Tagen ihr Herrschaftsgebiet verdoppelt, sagt die Nahost-Expertin und Politikberaterin Nebahat Tanriverdi zu CH Media. Auch die von der Türkei unterstützte Syrische Nationalarmee (SNA) und die kurdische Miliz Volksverteidigungseinheiten (YPG) konnten Gebietsgewinne erzielen, weil Assads Soldaten flohen.
Inzwischen kämpfen SNA und YPG in der Gegend zwischen Aleppo und der türkischen Grenze gegeneinander. Dahinter steht die Befürchtung der Türkei, dass die syrischen Kurden ihren Machtbereich ausbauen könnten. Der Kampf um die Gebiete, die von Assads Truppen aufgegeben wurden, könne «Syrien in neue Einflusssphären teilen», sagte Tanriverdi. Die Türkei, die einige Gebietsstreifen in Nordsyrien besetzt hält, werde nicht untätig zuschauen, wenn sich die YPG weiter ausbreiten sollte.
Ankara unterstützt in Syrien die SNA und toleriert die HTS, die seit Jahren die syrische Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei beherrscht. Bei einer Schlacht um Hama würden der Iran und Russland hinter der syrischen Armee stehen, während die Türkei den Angreifern helfen würde, wie Nahost-Experte Landis sagt. Bisher haben Russland, der Iran und die Türkei versucht, eine solche Konfrontation zu vermeiden. Im Jahr 2020 einigten sich Russland und die Türkei auf einen Waffenstillstand in Idlib.
Diesmal könnte das schwerer werden. Die Türkei will Verhandlungen mit Assad über die Rückführung von Flüchtlingen, doch der syrische Präsident lehnt das bisher ab. Assad könnte sich gezwungen sehen, der türkischen Forderung nachzugeben, sagt Tanriverdi. Gelegenheit, im Kreis der wichtigsten Länder im Syrien-Konflikt darüber zu sprechen, gibt es schon an diesem Montag: Nach seinem Besuch in Damaskus will der iranische Aussenminister Aragchi in die Türkei reisen.