20 Jahre Bahn 2000: Ein Machtwort rettet das Projekt
Heute vor 20 Jahren, morgens um drei Uhr, wurde das Produktionskonzept der SBB mit einem Schlag umgestellt: 15 Prozent mehr Zugskilometer, 90 Prozent der Züge mit einer neuen Fahrplanlage. Mehr als die Hälfte der Fahrzeiten zwischen den 125 grössten Bahnhöfen wurden um mehr als 5 Minuten reduziert. Im Paradefall Zofingen – Bern von 66 Minuten auf 30 Minuten. «Die Bahn wird zum Tram», titelte die NZZ in einer Sonderbeilage.
Das Volk sagt ja zu Bahn 2000
1984 diskutierte das Parlament im Rahmen einer Sondersession über die Auswirkungen des Waldsterbens. In der Folge wurden die SBB beauftragt, ein Konzept für eine markante Verbesserung des Bahnangebots zu erarbeiten. Wenig später präsentierten die SBB und ihre Partner im öffentlichen Verkehr die Idee Bahn 2000. Ziel war ein Produktionsplan, der die Summe aller Reisezeiten minimiert. Zu diesem Zweck sollten sich die Züge in den wichtigen Knotenbahnhöfen zur vollen und zur halben Stunde kreuzen, um die Umsteigezeiten zu minimieren.
Das bedingt Fahrzeiten zwischen den Knoten von etwas unter einer halben Stunde oder einem Vielfachen davon. In den nachfragestarken Relationen sollte der Halbstundentakt eingeführt werden. «Häufiger – rascher – direkter» wurde zum Slogan von Bahn 2000. Die Kosten der dafür notwendigen Ausbauinvestitionen – vier Neubaustrecken und viele weitere Ausbauten – wurden auf 5,4 Milliarden Franken geschätzt.
Das Konzept Bahn 2000 wurde in Rekordzeit von Bundesrat und Parlament bewilligt. Widerstand gab es in den Gebieten mit den geplanten Neubaustrecken, was zu einem Referendum führte. In der Eidgenössischen Volksabstimmung vom 6. Dezember 1987 wurde das Projekt mit einem Kredit von 5,4 Milliarden Franken mit 57 Prozent Ja-Stimmen angenommen.
Der Verkehrsminister greift ein
Anfang der 1990er-Jahre zeigte sich, dass die dem Projekt zugrunde liegenden Zahlen viel zu optimistisch waren. Die Kostenschätzungen beliefen sich nun auf 16,5 Milliarden Franken. Der damalige Verkehrsminister Adolf Ogi sprach ein Machtwort: «8 Milliarden und keinen Franken mehr.» Die SBB überarbeiteten das Projekt nach dem Motto: «50 Prozent der Investitionen, 75 Prozent des Nutzens.» Drei der vier vorgesehenen Neubaustrecken wurden aus dem Programm gestrichen. Das Parlament genehmigte die abgespeckte Version und einen Kostenplafond von 7,4 Milliarden Franken.
Warum lagen die ursprünglichen Kostenschätzungen so daneben? In einer aktuellen Datenbank mit weltweit 20’000 Grossprojekten findet sich die Antwort: «Statt die Arbeit sorgfältig zu planen, wird sie oft aus leichtfertigem Optimismus übereilt in Angriff genommen.» Stimmt. Die SBB hatten die Lektion gelernt: Die insgesamt 135 Projekte von Bahn 2000 – darunter die 45 Kilometer lange Neubautrecke Mattstetten-Rothrist mit dem Ast nach Solothurn, Adlertunnel, Zimmerbergtunnel, Aargauer Stadttunnel – wurden schliesslich mit 5,9 Milliarden Franken abgerechnet.
Bahn 2000 bringt mehr Menschen auf Bahn und Bus
Die Umsetzung des Konzeptes funktionierte ohne Friktionen. Selbst die Londoner «Times» setzte einen fetten Titel: «Swiss Railway runs like a clockwork». Seither gilt in der Schweiz: Von überall nach überall – mindestens jede Stunde, in vielen Verbindungen jede halbe Stunde. Ein Beispiel: In Engelberg, am Ende eines Bergtals, fährt der erste von 21 Zügen um 5.00 Uhr, der letzte um 00.18 Uhr. Dieser weltweit einzigartige Erschliessungsgrad hat seinen Preis. Die Kosten pro Kopf der Bevölkerung sind wohl auch am höchsten. Und die Auslastung der Züge und Busse ist bescheiden, bei der SBB beträgt sie knapp 30 Prozent.
Von 2004 bis 2010 stieg das Verkehrsaufkommen der SBB jährlich um 6 Prozent, der Marktanteil des öffentlichen Verkehrs verbesserte sich um 3 Prozent. Seit 2010 beträgt das jährliche Wachstum 1,3 Prozent und der Marktanteil stagniert.
Déja-vu
Seit dem 28. November wissen wir, dass das vom Parlament 2019 beschlossene Angebotskonzept 2035 (AK 35) nicht 16 Milliarden Franken kostet, sondern 30 Milliarden. Wie seinerzeit bei Bahn 2000, war die Planung offenbar unsorgfältig. Einen Unterschied gibt es aber: Während der Zweck der Investition bei Bahn 2000 präzise und für die ganze Bevölkerung verständlich definiert war, bleibt der Inhalt des AK 35 äusserst vage: «Ein dichterer Takt auf 60 Strecken und 20 Prozent mehr Sitzplätze». 30 Milliarden Franken für 20 Prozent mehr Sitzplätze: Das ist ein Wucherpreis.
Die schiere Höhe dieser Summe ist unfassbar. Umso mehr, wenn man sie mit den Zahlen von Bahn 2000 vergleicht. Die Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist mit insgesamt 10 Tunneln (darunter die komplexe Emme-Unterquerung) wurde mit 1,64 Milliarden Franken abgerechnet, pro Kilometer 36 Millionen Franken. Kürzlich wurde der 3114 Meter lange Eppenbergtunnel zwischen Olten und Aarau in Betrieb genommen. Der kostete 855 Millionen Franken, 275 Millionen Franken pro Kilometer. Mit der Bauteuerung ist das nicht zu erklären – die beträgt seit 2010 im Tiefbau 22 Prozent. Anderes Beispiel: Der seit 2010 (!) in Planung befindliche Umbau des Bahnhofs Lausanne wird mittlerweile mit 1,7 Milliarden Franken budgetiert. Teurer als vor 20 Jahren die Neubaustrecke. Irgendetwas ist da fundamental aus dem Ruder gelaufen.
Kommt hinzu: Die Eisenbahn steht vor einer digitalen Revolution. Es ist offensichtlich, dass sich dieses spurgeführte System dafür besonders eignet und dass man damit die Kapazität der bestehenden Infrastruktur rasch und substanziell erhöhen kann. Konkret bedeutet das, dass elektronische Stellwerke durch digitale Stellwerke ersetzt werden und damit Kabel und Signale verschwinden. In Deutschland schätzt man, dass dafür Investitionen von rund 60 Milliarden Euro notwendig sind. In der Schweiz müsste man mit etwa 10 Prozent davon rechnen. Meines Wissens ist diese unabdingbare Investition in keinem Programm enthalten.
Wie weiter?
Nüchtern besehen ist die Erhöhung des Kredites für das Angebotskonzept 2035 (eine Jahrzahl, die mittlerweile illusorisch ist) auf 30 Milliarden Franken schlicht nicht machbar. Aus finanztechnischen Gründen einerseits; anderseits: würde man ein derartiges Volumen verbauen wollen, wäre das Bahnnetz bis 2050 mit Baustellen verstopft; das Angebot würde kaum besser, aber vielerorts schlechter.
Jetzt braucht es wieder ein Machtwort des Verkehrsministers: 16 Milliarden und keinen Franken mehr. BAV und Transportunternehmen haben ein Angebotskonzept zu entwickeln, welches für dieses Geld den bestmöglichen Verlagerungseffekt verspricht.