Sie sind hier: Home > Europa > Der Bundesrat sagt Ja zum Abkommen mit der EU – so sind Streitschlichtung, Zuwanderung und Lohnschutz geregelt

Der Bundesrat sagt Ja zum Abkommen mit der EU – so sind Streitschlichtung, Zuwanderung und Lohnschutz geregelt

Abschluss nach monatelangen Verhandlungen: Am Freitag treten Bundespräsidentin Amherd und EU-Kommissionschefin von der Leyen vor die Medien. Die wichtigsten Antworten zum neuen Deal.

Was beinhaltet das neue Abkommen?

Nach 197 Sitzungen haben die Schweiz und die EU die am 8. März formell begonnenen Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende gebracht. Einig geworden sind sie sich sowohl bei den institutionellen Fragen wie der dynamischen Rechtsübernahme und dem Streitschlichtungsmechanismus als auch bei den vom Bundesrat angestrebten sektoriellen Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit.

Streitschlichtung:Dort wo die Schweiz an EU-Binnenmarktabkommen teilnimmt, kommt ein neuer Streitschlichtungsmechanismus zu Tragen. Bei Konflikten wird zunächst der Gemischte Ausschuss des betroffenen Abkommens angerufen. Wenn man sich dort nicht einig wird, kann jede Seite die Streitfrage einem paritätisch aus Vertretern der EU und der Schweiz zusammengesetzten Schiedsgericht zum Entscheid vorlesen. Betrifft der Streit Auslegungsfragen zu EU-Recht, so muss das paritätische Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Auslegung dieses Rechts beiziehen. Der Streit selber beurteilt jedoch das Schiedsgericht. Befolgt eine Seite nach Ansicht der anderen die Entscheidung des Schiedsgerichts nicht, so kann diese im betroffenen oder einem anderen Binnenmarktabkommen Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese müssen allerdings verhältnismässig sein. Die Verhältnismässigkeit kann das Schiedsgericht überprüfen.

Zuwanderung:In den Verhandlungen haben sich die EU und die Schweiz geeinigt, die bestehende Schutzklausel aus dem Abkommen über die Personenfreizügigkeit griffiger zu formulieren. In Zeiten extremer Zuwanderung soll diese der Schweiz die Möglichkeit geben, Massnahmen zu ergreifen. «Die neu konzipierte Schutzklausel kann von der Schweiz eigenständig aktiviert werden», heisst es dazu im Faktenblatt, das der Bundesrat am Freitag veröffentlicht hat. Sie muss allerdings mit ihrem Anliegen an den gemischten Ausschuss gelangen, in dem die EU und er Bund gleichermassen vertreten sind. Wird dort keine Einigung erzielt, kann Bern an ein Schiedsgericht gelangen. Dieses prüft, ob die Voraussetzungen für Schutzmassnahmen gegeben sind. Falls Ja, kann die Schweiz Schutzmassnahmen ergreifen. Führen aber die Schutzmassnahmen zu einem Ungleichgewicht der beiden Seiten, könnte die EU als Reaktion Ausgleichsmassnahmen im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens ergreifen, «die verhältnismässig sein müssten», so der Bundesrat.n Für die Anrufung der Schutzklausel ist nebst dem ordentlichen Verfahren, das im schnellsten Fall rund acht Monate dauert, auch ein Vorgehen in dringlichen Situationen vorgesehen. Hier könnte die Schweiz innert 60 Tagen provisorische Massnahmen ergreifen, die danach noch vom Schiedsgericht beurteilt würden.

Dynamische Rechtsübernahme:Die dynamische Rechtsübernahme kommt nur in jenen Bereichen zu Anwendung, in denen die Schweiz an EU-Binnenrechtsabkommen beteiligt ist. Sie bleibt auf deren Anwendungsbereich beschränkt. Der Anwendungsbereich der Binnenmarktabkommen kann zudem nicht von der EU ausgedehnt werden. Ändert die EU die rechtlichen Grundlagen eines Binnenmarktabkommens, so entscheidet die Schweiz über die erforderlichen Anpassungen im nationalen Recht, welche wie üblich dem Referendum unterstehen. Verweigert sie die Übernahme eines geänderten EU-Rechtssatzes, kann die EU verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen im betroffenen Abkommen oder einem anderen Binnenmarktabkommen treffen.

Lohnschutz:Hier geht es um entsendete Arbeitnehmende aus dem EU-Raum, die in der Schweiz arbeiten. Um Lohndumping zu verhindern, wurden in der Schweiz bereits 2004 die Flankierenden Massnahmen eingeführt. Mit den Verhandlungen wird die Schweiz die EU-Entsenderichtlinie übernehmen. Es gilt der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Die Einhaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen wird durch die paritätischen Kommissionen, also Gewerkschaften und Arbeitgeber kontrolliert – so oft wie die Schweiz will. In den Verhandlungen holte die Schweiz Ausnahmen heraus. So gilt in Risikobranchen weiterhin eine Voranmeldefrist, sie wird aber von acht auf vier Tage verkürzt. Und die Schweiz kann eine Kaution für Wiederholungstäter verlangen Zudem hat die EU der Schweiz eine Non-Regression-Klausel zugestanden. Das heisst, die Schweiz muss Weiterentwicklungen der EU-Entsendrichtlinie nicht übernehmen, wenn das Schweizer Schutzniveau verschlechtert würde.

Spesenregelung: Hier bleiben Fragezeichen offen. Für entsendete Arbeitnehmende gilt das Spesenniveau aus dem Herkunftsland – das kann zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Die Schweiz muss die Spesenregelung übernehmen. Der Bundesrat hält fest, dass er bei der Umsetzung im Inland den zur Verfügung stehenden Spielraum maximal nutzen wird, um das Risiko von Wettbewerbsverzerrungen zu minimieren. Ob das den Gewerkschaften genügt?

Kohäsionszahlungen:Viel wurde spekuliert über die Höhe der künftigen Kohäsionszahlungen der Schweiz an ausgewählte EU-Staaten. Jetzt bestätigt sich, was diese Zeitung beriets berichtete: Von 2030 bis 2036 zahlt die Schweiz jährlich 350 Millionen Franken jährlich. Für die Jahre 2025 bis 2029 hat sich der Bund zu einer Zahlung von jährlich 130 Millionen Franken verpflichtet. Er wird erst fällig, wenn das Abkommen in Kraft tritt.

Wie bewertet der Bundesrat das Ergebnis?

Der Bundesrat zeigt sich zufrieden mit dem Ergebnis: Die im Verhandlungsmandat definierten Ziele seien in allen betroffenen Bereichen erreicht worden., schreibt die Landesregierung in einem Communiqué. «Die positiven Ergebnisse der Verhandlungen entsprechen den Interessen der Schweiz und ebnen den Weg für die nächsten Schritte».

In einer von geopolitischer Instabilität und globalen Krisen geprägten Welt seien stabile und vorhersehbare Beziehungen mit der EU von strategischer Notwendigkeit. Um die Sicherheit und den Wohlstand der Schweiz zu gewährleisten, seien der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen, die wissenschaftliche Zusammenarbeit und die gemeinsame Bewältigung aktueller Herausforderungen unerlässlich. Der bilaterale Weg trage seit 25 Jahren massgeblich zum Erfolg der Schweiz bei: «Es ist von entscheidender Bedeutung, diesen Weg auf der Grundlage spannungsfreier und rechtlich geklärter Beziehungen fortzusetzen.»

Weshalb soll es ein neues Abkommen geben?

Das Abkommen zwischen der Schweiz und der EU, über dessen Abschluss Bundespräsidentin Viola Amherd und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen heute informieren, hat eine lange Vorgeschichte.

Nach dem knappen Nein der Stimmbevölkerung zum EWR-Beitritt am 6. März 1992 handelten die Schweiz und die Europäische Union eine Reihe von bilateralen Abkommen aus, die in mehreren Abstimmungen von der Bevölkerung angenommen wurden. Sie regeln die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU in unterschiedlichen Bereichen wie Wirtschaft, Verkehr, Forschung oder Bildung.

Zu den wichtigsten Abkommen gehören die Personenfreizügigkeit oder die Verträge von Schengen (Abschaffung der systematischen Grenzkontrollen) und Dublin (europäisches Asylsystem). Die bilateralen Abkommen erlauben der Schweiz die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt, an Forschungs- und Bildungsprogrammen oder an der grenzüberschreitenden Kriminalitätsbekämpfung.

2002 begannen im Schweizer Parlament erste Diskussionen über eine «institutionelle Lösung», welche «alle bilateralen Abkommen unter dem Dach eines Rahmenabkommens bündeln» sollten. Im Juni 2008 beauftragte das Parlament den Bundesrat, dazu Verhandlungen mit der EU aufzunehmen.

Ab dem Dezember 2008 drängte auch die EU auf den Abschluss eines Rahmenabkommens, welches institutionelle Fragen einheitlich und übergeordnet regelt. Insbesondere soll ein Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen der Schweiz und der EU gefunden werden. Dies wurde zur Bedingung für den Abschluss neuer Abkommen für den Marktzugang. Anders gesagt: Der bilaterale Weg, der auf die Regelung der Beziehungen über sektorielle Abkommen setzt, droht zu erodieren.

Im Mai 2014 begannen formell die Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen. Ende 2018 steht das Verhandlungsergebnis auf technischer Ebene grundsätzlich fest. Doch insbesondere beim Lohnschutz, den Sozialversicherungsansprüchen von in der Schweiz wohnhaften EU-Bürgern und den staatlichen Beihilfen blieben erhebliche Differenzen. Im Mai 2021 brach der Bundesrat mit Blick auf den heftigen innenpolitischen Widerstand aus zahlreichen Lagern die Verhandlungen einseitig ab. Er kündigte jedoch an, die bilaterale Zusammenarbeit mit der EU weiterhin pflegen zu wollen.

Wie liefen die Verhandlungen für das neue Abkommen?

Nachdem der Bundesrat das institutionelle Abkommen beerdigt hatte, begannen 2022 Sondierungsgespräche über einen neuen Anlauf zur Weiterentwicklung bestehender und den Abschluss neuer Verträge sowie über eine Regelung der institutionellen Fragen. Im Dezember 2023 verabschiedete der Bundesrat ein Verhandlungsmandat, im März 2024 nahmen die Schweiz und die EU formell neue Verhandlungen auf.

In monatelangen, intensiven Gesprächen mit über 170 Sitzungen erzielten die beiden Parteien auf technischer Ebene eine Einigung. Zuletzt gab es noch einen intensiven Austausch auf höchstem Niveau über die letzten strittigen Punkte. Aussenminister Ignazio Cassis und der zuständige EU-Kommissar Maros Sefcovic telefonierten in der laufenden Woche mindestens zweimal.

Was sind die strittigsten Punkte im neuen Abkommen?

Streitbeilegung:Kommt es in der Anwendung oder Interpretation von bilateralen Abkommen zu Konflikten zwischen der Schweiz und der EU, so soll ein paritätisch besetztes Schiedsgericht darüber urteilen. Allerdings muss sich dieses auf eine vorgängige Einschätzung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) stützen, dem obersten Gericht der EU.

Dynamische Rechtsübernahme:Beschliesst die EU neue Gesetze, welche auch die bestehenden Abkommen mit der Schweiz betreffen, so muss die Eidgenossenschaft diese Änderungen grundsätzlich übernehmen. EU-Kritiker sehen darin, ebenso wie beim Streitschlichtungsmechanismus, einen Abbau der Souveränität und der direkten Demokratie.

Zuwanderung:Mit dem Beitritt der Schweiz zum Personenfreizügigkeitsabkommen im Jahr 2002 hat die Zuwanderung stark zugenommen. Wirtschaftlich profitiert das Land unter dem Strich zwar davon. Allerdings sorgen gewisse Begleiterscheinungen der anhaltend hohen Zuwanderung schon länger für Unzufriedenheit, etwa auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt oder bei der Beanspruchung der Verkehrsinfrastruktur. Dies führte 2014 zur Annahme der SVP-Masseneinwanderungsinitiative (MEI). Die Schweiz drängte in den Verhandlungen deshalb auf eine Schutzklausel, welche ihr unter gewissen Bedingungen eine Beschränkung der Zuwanderung erlauben soll.

Lohnschutz:Um die Akzeptanz der bilateralen Abkommen im Inland zu sichern, traten 2004 die flankierenden Massnahmen in Kraft. Sie sollten sicherstellen, dass Unternehmen aus der EU hierzulande ihre Angestellten zu Schweizer Arbeitsbedingungen und Schweizer Löhnen beschäftigten. Bei den Gewerkschaften sind die Befürchtungen gross, dass der Lohnschutz bei einem neuen Abkommen unter Druck kommt. Umstritten sind insbesondere die Voranmeldefrist für EU-Unternehmen, die in der Schweiz einen Auftrag ausführen, sowie die Spesenregelungen. Hier sehen die Gewerkschaften Missbrauchspotenzial.

Kohäsionszahlungen:Ebenfalls gestritten wurde über die Höhe der Zahlungen der Schweiz zur Unterstützung der wirtschaftlich schwächeren EU-Länder, insbesondere in Ost- und Südosteuropa. Diese Zahlungen sind gewissermassen das Eintrittsticket der Schweiz für die Teilnahme am EU-Binnenmarkt. Wie CH-Media-Korrespondent Remo Hess in Brüssel erfahren hat, sollen die von der Schweiz jährlich zu leistenden Kohäsionszahlungen 350 Millionen Franken betragen.

Wer unterstützt das Abkommen? Und wer ist dagegen?

Da der Inhalt des Verhandlungsergebnisses noch nicht öffentlich bekannt ist, hielten sich zahlreiche Akteure mit einer endgültigen Positionierung lange zurück. Klar war von Anfang an: Die SVP ist unabhängig vom Ausgang der Verhandlungen gegen ein Abkommen mit der EU. Sekundiert wird sie von den Initianten der sogenannten Kompass-Initiative um den Unternehmer Fredy Gantner von der Zuger Partners Group. Skepsis herrscht auch in Teilen der FDP und der Mitte. Uneingeschränkt positiv eingestellt ist die GLP. Zustimmung signalisiert hat auch der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Bei SP, Gewerkschaften und Grünen dürfte die Beurteilung des Abkommens stark von der konkreten Ausgestaltung des Lohnschutzes und der flankierenden Massnahmen im Inland abhängen.

Wie geht es jetzt weiter?

Zunächst wird der ausgehandelte Vertragstext zwischen den beiden Parteien juristisch bereinigt (sogenannte Paraphierung). Danach wird der Bundesrat, voraussichtlich im Mai oder Juni 2026, die Vernehmlassung eröffnen und danach die Antworten auswerten. Im Frühjahr 2026 dürfte er die Botschaft verabschieden, womit die parlamentarische Debatte beginnt, zunächst in den Kommissionen, dann in den beiden Räten.

Dem Parlament obliegt es auch, darüber zu befinden, ob es das Abkommen mit der EU einem fakultativen oder einem obligatorischen Referendum unterstellt. Im zweiten Fall wäre nebst einem Volks- auch ein Ständemehr notwendig.Es gilt als wahrscheinlich, dass die neuen sektoriellen Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit gesondert vom institutionellen Abkommen zur Abstimmung kommen.

Alle Zeichen deuten darauf hin, dass eine Mitte-links-Mehrheit dafür sorgen wird, dass eine Volksabstimmung erst nach dem Wahljahr 2027 stattfinden wird. In der Zwischenzeit wird die Bevölkerung über die 10-Millionen-Schweiz-Initiative der SVP zu befinden haben. Deren Annahme würde das vorzeitige Aus für das Abkommen mit der EU bedeuten. Der Bundesrat wird versuchen, dem SVP-Anliegen mit Gegenmassnahmen, insbesondere bei den Nebenwirkungen der Zuwanderung, den Wind aus den Segeln zu nehmen.