Vier Männer, vier Frauen und eine lange Zeit dazwischen – diese Aargauerinnen und Aargauer präsidierten den Nationalrat
Derzeit stellt der Kanton Aargau mit Maja Riniker zum 15. Mal in der Geschichte der Eidgenossenschaft die Präsidentin oder den Präsidenten des Nationalrats. Nur die Kantone Bern (28), Zürich (24) und Waadt (20) kommen auf mehr Vertretungen. Und: Während Politik auch im Aargau lange Zeit sichtbar reine Männersache war, haben die Aargauer Frauen seit 2006 in diesem Amt mächtig aufgeholt.
Beim Blick weiter zurück in die Geschichte fällt auf, dass in der ersten Hälfte der 20. Jahrhunderts eine Berufsgruppe in der Politik offenbar besonders gut punkten konnte.
2024/25: Maja Riniker, Suhr, FDP
Über sie braucht es derzeit keine vielen Worte. Eben erstzur Nationalratspräsidentin ernannt, war in letzter Zeit viel über Maja Riniker zu lesen. Der Kanton Aargau hat der neuen Nationalratspräsidentinin Murgenthal, Aarau und Suhr einen grossen Empfang bereitet. Sie hat in einemInterview über ihr bevorstehendes, ereignisreiches Jahrgesprochen. Und nicht zuletzt hat auchein besonderer Kühlschrank im Bundeshausfür Schlagzeilen gesorgt.
Riniker war an ihrem Wohnort Suhr von 2006 bis 2013 Schulpflegemitglied. Von 2014 bis zur Wahl in den Nationalrat im Herbst 2019 sass die FDP-Politikerin im Grossen Rat. Sie wurde in Aarau geboren und wuchs in Lenzburg auf. Die 46-Jährige absolvierte eine KV-Lehre beim damaligen Schweizerischen Bankverein und studierte später berufsbegleitend Betriebsökonomie an der Fachhochschule in Zürich.
2021/22: Irène Kälin, Oberflachs, Grüne
Besonders lange Anlaufzeit brauchte Irène Kälin in Bundesbern nicht, ehe sie Nationalratspräsidentin wurde. Im November 2017 rückte sie für den zurückgetretenen Jonas Fricker in den Nationalrat nach. Zwei Jahre später wurde sie bei den Wahlen in ihrem Amt bestätigt und wiederum zwei Jahre später war sie bereits «höchste Schweizerin».
Die politische Karriere der heute 37-Jährigen nahm 2010 mit der Wahl in den Grossen Rat so richtig Fahrt auf. Ab 2013 war sie dort auch Co-Fraktionspräsidentin der Grünen. Von 2012 bis 2014 hatte sie das Amt der Vizepräsidentin der Grünen Schweiz inne.
Der berufliche Weg führte sie nach dem Studium als Sekretärin zur Gewerkschaft Unia. Heute präsidiert Kälin «Arbeit Aargau» und «Arbeitsintegration Schweiz». Während ihrer Zeit als Nationalratspräsidentin wohnte die studierte Islam- und Religionswissenschafterin in Oberflachs, mittlerweile lebt sie mit ihrem Sohn in Aarau-Rohr. Sie ist nach wie vor Teil des Nationalrats.
2009/10: Pascale Bruderer, Nussbaumen, SP
Oft wurde Pascale Bruderer nachgesagt, sie politisiere am rechten Rand ihrer Partei SP. Damit schaffte sie es, auch das bürgerliche Lager abzuholen. 2002 rückte sie, damals 24-jährig, für den zurückgetretenen Hans Zbinden in den Nationalrat nach. Sie wurde so zur bis dahin jüngsten Nationalrätin.
Mit ihrem für eine Politikerin sehr jungen Alter versuchte sie, jüngere Menschen für die Politik zu begeistern. Daneben lag ihr die Inklusion von Menschen mit Behinderungen am Herzen. Aber auch die Gesundheits-, Sozial-, und Energiepolitik standen auf ihrer Agenda oben. Für ihr Engagement erhielt die studierte Politologin 2008 den Prix Jeunesse und 2011 den Swiss Award in der Sparte Politik.
Mit 174 von 182 gültigen Stimmen wählte der Nationalrat 2009 Bruderer zu seiner Präsidentin. Und nur zwei Jahre später schaffte sie den Einzug in den Ständerat bereits im ersten Wahlgang – noch vor der Bisherigen Christine Egerszegi. Der Aargau war erstmals mit zwei Frauen im Ständerat vertreten.
Bruderers Affinität zur Wirtschaft wurde nach ihrem Rücktritt aus dem Ständerat 2019 bestätigt. Sie wollte sich neu orientieren und tat dies mittels Wechsel ins Unternehmertum. Alle politischen Ämter gab sie nach über zwei Jahrzehnten Parlamentsarbeit ab.
2006/07: Christine Egerszegi, Mellingen, FDP
Vor allem für die Frauen im Kanton hat Christine Egerszegi einen Meilenstein erreicht, wurde sie doch als erste Frau überhaupt für den Aargau in den Ständerat gewählt. Diesem gehörte sie von 2007 bis zu ihrem Rücktritt 2015 an. Was davor kam, wirkt wie eine politische Bilderbuchkarriere. Denn ihre Ämter brachten sie immer zum jeweils nächsthöheren. Dreissig Jahre sind es insgesamt, von ihrem Wirken in der Schulpflege bis zum Rücktritt im Ständerat.
Dazwischen liegen der Mellinger Stadtrat 1990-1998, die Wahl in den Grossen Rat 1989 und der Weiterzug von Aarau nach Bern in den Nationalrat im Jahr 1995. Immer vergingen nur wenige Jahre bis zum nächsten Schritt. Kurz nach ihrem Jahr als Präsidentin des Nationalrats – auch hier als erste Frau aus dem Aargau – kam die bereits angesprochene Wahl in den Ständerat.
Es gibt auch einen roten Faden in Egerszegis Schaffen: Die Schwerpunkte Gesundheit und Soziales, aber auch die Bildung. So erreichte die ausgebildete Sängerin einen ihrer grössten Erfolge 2012: Trotz Widerstand aus ihrer eigenen Partei konnte sie das Stimmvolk von einem Artikel zur Verankerung der musikalischen Bildung in der Bundesverfassung überzeugen.
1951/52: Karl Renold, Dättwil – Bauern-, Gewerbe und Bürgerpartei
Als Oberst der Schweizer Armee nahm Karl Renold während des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle bei der Grenzsicherung ein. Er war von 1938 bis 1944 Kommandant der aargauischen Grenzbrigade. Seine politische Karriere nahm ebenfalls in dieser Zeit ihren Lauf. 1942 wurde er in den Nationalrat gewählt. Dort konnte er seine militärischen Erfahrungen unter anderem in der Militärkommission einbringen, aber auch in der Atom- und Strahlenschutzkommission.
Wie die drei Aargauer Nationalratspräsidenten vor ihm (siehe unten), war auch Renold ein studierter Jurist mit Verbindungen in den Bauernstand. Seine Eltern führten einen Landwirtschaftsbetrieb. Da lag das Präsidium der Bauern, Gewerbe- und Bürgerpartei nahe, das er von 1953 bis 1957 innehatte.
Beruflich wählte er aber seinen eigenen Weg. Nach 8 Jahren als Staatsschreiber war er 31 Jahre lang Direktor des aargauischen Versicherungsamtes. Renold verstarb am 4. September 1959 als noch aktiver Nationalrat.
1942/43: Emil Keller, Aarau – FDP
Heute undenkbar: Emil Keller war gleichzeitig Aargauer Regierungsrat und Nationalrat – und das während über 25 Jahren. In die Kantonsregierung kam er 1909, ohne vorher ein politisches Amt innegehabt zu haben. Er hatte zuvor das Anwaltspatent gemacht und war als Staatsschreiber tätig.
Während seiner Amtszeit bis 1945 entstanden im Aargau zahlreiche neue Kraftwerke. Insbesondere setzte er sich für Wasserkraft ein. Die Energiepolitik beschäftigte ihn nebst der Finanzpolitik auch im Nationalrat, dem er mit einem rund dreijährigen Unterbruch von 1912 bis 1943 angehörte. Keller war Teil von über 60 Kommissionen, alleine deren 15 präsidierte er. Zudem stand er zeitweise der FDP-Fraktion im Bundeshaus sowie der Aargauer FDP vor.
Er beendete seine nationale Politkarriere quasi auf dem persönlichen Höhepunkt, als Präsident des Nationalrats. Allerdings etwas unfreiwillig, denn seinem Verzicht auf eine weitere Kandidatur als Nationalrat sollte der Einzug in den Ständerat folgen. Er hätte damit seinen älteren Bruder Gottfried beerbt, der den Kanton während über dreissig Jahren (1912 bis 1943) im Ständerat vertrat und 1925/26 diesen gar präsidierte. Emil Keller verlor die Wahl jedoch gegen den SP-Kandidaten Karl Killer.
1940/41: Emil Nietlispach, Beinwil – Konservative Volkspartei
Emil Nietlispach hatte während des Zweiten Weltkriegs wichtige Ämter inne. Nicht nur den Nationalrat präsidierte er während dieser Zeit, sondern auch die katholisch-konservative Fraktion und die Vollmachtenkommission. Der Bundesrat konnte damals dank Erlassen des Parlaments mittels Vollmachten regieren, die teilweise bis 1952 bestand hatten.
Beruflich war Nietlispach als Jurist unterwegs. Er eröffnete 1915 ein Anwaltsbüro in Wohlen und war später während 17 Jahren Richter am Versicherungsgericht. Dieses beurteilte bis 2006 Streitigkeiten im Bereich der Sozialversicherungen und ist heute Teil des Bundesgerichts.
Trotz seines bürgerlichen Berufs setzte sich Nietlispach immer wieder für den Bauernstand ein. Er gilt als Initiator des katholischen Bauernbundes und war Mitbegründer des Freiämter Bauernbundes sowie des Aargauer katholischen Bauernbundes. Volksrechte, ein effizienter Parlamentsbetrieb und gesunde Bundesfinanzen standen zudem auf seiner Agenda.
1931/32: Roman Abt, Bünzen – Bauern-, Gewerbe und Bürgerpartei
Die Familie Abt hat um die Jahrtausendwende (1900) und im frühen 20. Jahrhundert ihre Spuren in der Aargauer Politik hinterlassen. Bereits Heinrich Eugen Abt war im Nationalrat, Sohn Heinrich Roman Abt trat in dessen Fussstapfen. Dabei hat Abt Junior gleich zwei Räte präsidiert. Ab 1923 den Grossen Rat und ab 1931 den Nationalrat.
Für Aufsehen sorgte er mit einer Motion, die 1921 eine Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 auf 54 Stunden forderte. Zudem zeigte er während des Zweiten Weltkriegs gewisse Sympathien für das Nationalsozialistische Deutsche Reich. Abts Feindbild waren Sozialismus und Kommunismus. Hier versuchte er, die bürgerlichen Parteien zu einen, um gemeinsam dagegen vorzugehen.
Roman Abt sah sich als Brückenbauer zwischen Industrie und Landwirtschaft. Kein Wunder, war er doch privat selber in zwei Welten unterwegs. Er übernahm den elterlichen Hof in Bünzen, eröffnete aber auch eine Anwaltspraxis in Wohlen. Der Mitbegründer der Aargauer Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) verstarb 1942 mit 59 Jahren als aktiver Nationalrat.
Weitere Nationalratspräsidenten aus dem Aargau
1902/03: Konradin Zschokke, Aarau – Liberale
1887/88: Erwin Kurz, Aarau – Liberale
1879/80: Arnold Künzli, Murgenthal – Demokraten
1874: Karl Feer-Herzog, Aarau – Liberale
1864/65: Gottlieb Jäger, Brugg – Liberale
1857/58: Augustin Keller, Sarmenstorf – Liberale
1856: Friedrich Siegfried, Zofingen – Liberale