«Schlaf gut, Aumionautie» – wenn Podcasts die besseren Gutenachtgeschichten erzählen
Schlaf ist das Thema Nummer eins unter Eltern kleiner Kinder. Schlafen die Kinder gut, kann man sich glücklich schätzen. Schlafen sie nicht durch oder nicht ein, bringt das viel Stress ins Familienleben und Eltern rasch an die Belastungsgrenze.
Erziehungsratgeber haben für Eltern vor allem zwei Empfehlungen, wie man Kinder am besten ins Bett bringt. Erstens, so trivial das klingt, sollte man erst damit anfangen, wenn die Kleinen wirklich müde sind. Und zweitens hilft ein Einschlafritual, ein immer gleicher Ablauf, der Kindern Sicherheit und Geborgenheit vermittelt.
Bei vielen ist das Erzählen ad hoc erfundener Geschichten fester Bestandteil dieses Rituals. Aber das hat seine Tücken. Nicht immer hat man die mentale Kapazität, um sich nach einem langen Tag noch etwas auszudenken. Und gelingt eine Geschichte mal zu gut, werden die Kinder erst recht aktiv, wünschen sich Figuren hinzu, diskutieren, sind wacher als zuvor.
Fahrt mit der Traumeisenbahn
Einen Ausweg bieten Hörspiele, die speziell als Einschlafhilfe konzipiert wurden, wie etwa «Aumio». Die App wurde während der Pandemie von vier Studierenden der Freien Universität Berlin entwickelt, «um Kindern mit psychischen Herausforderungen wie Angststörungen und Aufmerksamkeitsproblemen spielerisch zu helfen», wie Miterfinder Tilman Wiewinner sagt. Unterdessen zählt sie einen weiter gefassten Anwenderkreis.
Die beliebtesten Geschichten sind Traumreisen zum Einschlafen sowie Erzählungen, die das Selbstbewusstsein der Kinder stärken sollen. Aumio, der Titelheld der App, ist ein kleiner Astronaut, mit dem die Kinder in eine Rakete steigen und ins Weltall fliegen – zur «tuckernden Traumeisenbahn» oder zum «magischen Springseil».
Erzählt wird mit ruhiger Stimme und vielen Details. Nicht die Handlung, sondern die Sinneswahrnehmungen und Bilder prägen das Hörerlebnis. Bevor es losgeht mit dem Raumschiff, atmen die Aumionauten – wie die Kinder genannt werden – dreimal tief ein und aus. Am Ende entlässt die Stimme die Kinder mit «Gute Nacht, Aumionautie» in den Schlaf.
Der Bauchnabel zaubert
In der Schweiz hat SRF mit «Schlummerland» ein Pendant zur deutschen App im Programm. SRF-Kids-Redaktorin Dania Sulzer hat den Podcast entwickelt – zufällig in derselben Zeit, in der auch Aumio entstanden ist, wie sie sagt. «Das Einschlafen mit den Kindern war immer ein Thema mit meinen Freundinnen», erzählt sie. «Und ich habe seit jeher gern Geschichten gehört, als Kind stundenlang Kasettli.»
Sulzer ist auch Yogalehrerin und hat sich in Meditation und Yoga Nidra weitergebildet, bei dem durch völlige Tiefenentspannung bei klarem Bewusstsein ein psychischer Schlaf erreicht werden soll. Damit habe sie die Geschichten verbinden wollen. Im Zentrum stand die Idee, dass die Handlung in einer natürlichen, friedlichen, warm-weichen Welt stattfinden soll.
Die Geschichten fangen immer gleich an und hören gleich auf. Die Kinder treten durch eine imaginäre Tür ins «Schlummerland», wo die sogenannten Muns leben. Fellwesen, so gross wie Kleinkinder. Die Protagonisten heissen Fanian und Flick und können mit einem Klopfen auf ihren Bauchnabel Dinge herbeizaubern. Etwa einen warmen Schal und Handschuhe oder ein Zelt aus seidenem Stoff, in das man von aussen nicht hineinsieht, aber aus dem man von innen nach draussen schauen kann.
Elemente der Geschichten sind das tiefe Ein- und Ausatmen in den Bauch und Geräusche, zum Beispiel das Klacken der Türfalle, das Murmeln der Muns oder das Knirschen, wenn Flick einen gefrorenen See betritt. Die Geschichten sind durchgängig mit Klängen unterlegt, um so «ein lebendiges Vibrieren des Schlummerlands» hörbar zu machen, wie Sulzer sagt. Viele der zwanzig- bis dreissigminütigen Folgen klingen mit leisen Windspieltönen minutenlang aus.
Die Handlung ist auch im Schlummerland stark reduziert, und die Details werden ausgeschmückt. «Über das Blatt eines Baumes oder über die feinen Kristallstrukturen eines gefrorenen Wasserfalls kann man ja eigentlich eine A4-Seite schreiben.» Wenn sie im Alltag unterwegs ist, fotografiert Sulzer auch mal solche kleinen Beobachtungen, als Erinnerungsstütze.
Geschäftsmodell versus Sprachpflege
Die Aumio-App zählt heute über 100 Einschlafgeschichten. Mehr als fünfzig sind es beim Schlummerland, der Podcast hat täglich mehrere tausend Hörerinnen und Hörer. Sie habe eigentlich immer gedacht, dass dann mal Schluss sei, sagt Sulzer. Aber jetzt kämen ihr immer wieder neue Ideen.
Ein Bild von den Muns gibt es nicht. «Jedes Kind soll seine eigene Vorstellung haben», so Sulzer. Im Gegensatz dazu gibt es Bilder von Aumio und seiner Freundin Betty, einem Hamster. Allgemein wird die kostenpflichtige deutsche App (rund 66 Franken pro Jahr) stärker vermarktet als das frei zugängliche SRF-Angebot. Die Aumio-Erfinder waren mit ihrer App einst auch in der deutschen Start-up-Sendung «Höhle der Löwen» zu Gast.
Aumio-Geschichten gibt es unterdessen auch auf Englisch und neu in einer Version für Babys. «Happy Baby» soll speziell auf die Bedürfnisse von Babys und ihren Eltern eingehen, sagt Wiewinner und ergänzt: «Wir wollen mit Aumio ein umfassendes Ökosystem für die mentale Gesundheit von Familien schaffen.»
Auch «Schlummerland» verfolgt tiefer liegende Ziele, nämlich Sprachpflege. schweizerdeutsche Wörter wie «munzig» und «gigele» schaffen es damit vielleicht wieder in den aktiven Wortschatz der Kinder zurück.
Einschlafen leicht gemacht
Aber müssen sich Eltern, die einfach Gutenachtgeschichten abspielen, für ihren Minimalismus schlecht fühlen? Nein, sagt Rabia Liamlahi, die am Kinderspital Zürich als Ärztin für die Schlafsprechstunde der Entwicklungspädiatrie zuständig ist. «Solange das Bedürfnis der Kinder nach Nähe und Zuwendung tagsüber ausreichend berücksichtigt wird, spricht nichts gegen Einschlafgeschichten.»
Liamlahi rät dazu, genau abzumachen, wie viele Geschichten das Kind hören darf. Wenn es auch nach zwei längeren Geschichten noch nicht schläft, kann es sein, dass es noch nicht genug müde ist. Am besten sei es, wenn das Kind mit der Geschichte runterfahren könne und erst danach einschlafe, sagt Liamlahi. «So kann es auch in der Nacht wieder ohne Einschlafhilfe zurück in den Schlaf finden.»