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Der Komplize der Kunstwelt lebt in St. Gallen unter einer Brücke – was Felix Lehner gegen die Geburtswehen von Kunstschaffenden macht

Yayoi Kusama, Pipilotti Rist, internationale Spitzen-Kunstschaffende treffen sich beim Gründer der «Kunstgiesserei» in St.Gallen. Dafür hat er jetzt vom Bund den renommierten «Prix Meret Oppenheim» erhalten. Wer ist dieser Maniac?

Die Augen sind klar, in den Brauen liegt Überzeugungskraft. Das Gesicht ist dunkel. Russ, Spuren eines Gussofens vielleicht. Nähe ist wichtig für Felix Lehner, Dinge sinnlich zu begreifen, anzufassen, Arbeit und Menschen. Gemeinsam mit ihnen verlässt er alte Gedankenpfade.

Sein Tüftlerkopf will Neues. Materialien überlisten, Schwerkraft austricksen, Industriemaschinen erfinden, Hightech so richtig high machen. «Unmöglich» ist ein Wort, das er nicht akzeptiert.

Im Sittertal bei St.Gallen, in einer 1838 gegründeten ehemaligen Textilfärberei, hat sich Felix Lehner seinen Lebenstraum verwirklicht.
Bild:Michel Canonica

Freunde sagen, Felix ist ein Träumer. Wenn sie recht haben, hat im Sittertal bei St.Gallen einer sich einen Ort erträumt, den es in der Welt kein zweites Mal gibt. Felix Lehner lebt seit 41 Jahren den Traum der weltweit wichtigsten und in seiner Breite einzigartigen Geburtsstation für künstlerische Ideen. Sie ist auch eine Wehenklinik.

Körpereinsatz im Namen der Kunst, die 100 Mitarbeitenden der ‚Kunstgiesserei‘ geben alles.
Bild: Michel Canonica

Wissen aus dem alten China

Auf dem Industrieareal einer ehemaligen Textilfärberei unter der Fürstenlandbrücke stehen die Hallen und Werkstätten. Ein Magnetfeld für Top-Kunstschaffende im Hochpreissegment genauso wie für nationale und lokale Kunstschaffende. Seit 2012 gibt es die Kunstgiesserei auch Made in China. Nicht als billigen Produktionsort, im Gegenteil.

Lehner hat den Standort Schanghai ausgewählt, weil er dort das Wissen um altes, in Europa vergessenes Handwerk gefunden hat, er hat es sogar repatriiert. Die Technik des Blechtreibens, ein Beispiel. Das Arbeitsethos des chinesischen Teams begeistert: «Wer möchte in der Schweiz 18’000 Punkte von Hand auf ein Kunstwerk von Yayoi Kusama malen, leidenschaftlich bis zum letzten?»

Superstar Kusama, 95, aus Japanzählt zu Lehners aktuellen Kunden, die bei ihm arbeiten lassen. Vor der Ausstellung in der Fondation Beyeler im Herbst ein Grossauftrag. Und dann sind da in diesen Tagen: Arbeiten für den legendären amerikanischen Streetart-Künstler Kenny Scharf, einst ein WG-Kumpel der längst verstorbenen Jean-Michel Basquiat und Keith Harring.

In der Spritzkabine warten Skulpturenteile der deutschen Star-Künstlerin Katharina Fritsch, die im Frühling in Stuttgart eröffnet. In den Hallen machen sich schwarze Menschendarstellungen des hoch dotierten Briten Thomas J. Price breit, seine Ausstellung ist im Londoner Victoria and Albert Museum.

Die Grosskulpturen des Brit-Stars Thomas J. Price stehen zur Zeit im Victoria and Albert Museum in London. In St. Gallen werden sie hergestellt.
Bild: Michel Canonica

Ums Eck hat der belgische Publikumsliebling Pierre Huyghe, der auf dem Kopf von «Liegenden» gerne Bienen wohnen lässt – die nicht ungefährlichen Vorarbeiten dafür fanden im Sittertobel statt –, eine ihm vorbehaltene Werkstätte. Es duftet im Inneren süss nach erhitztem Zucker, ein wirkungsvolles Arbeitsmaterial, das hier für Huyghe eingefärbt wird.

Filigran sind die Murano-Arbeiten des wichtigsten zeitgenössischen Schweizers in New York, Urs Fischer. Unzufrieden mit der Werkstatt in Venedig schmiss er hin und überliess dem Team Lehner die Fortsetzung. Überhaupt Urs Fischer. Für ihn entstehen in der Kunstgiesserei bis zu 20 Meter hohe Skulpturen, im Prozess entwickelt man die dafür notwendigen Maschinen. Gross wie ein Zimmer ist die neuste, eine digitale Fräse.

Damit wurde in St.Gallen eine minimalistische Skulptur erstellt, das Tonmodell hochaufgelöst gescannt, in Schanghai gegossen. Ein Mordstier im Auftrag eines Privatsammlers, das nun als «Wale» auf einer Nebeninsel von Hawaii in den Pazifik ragt. Ursprünglich ein daumengrosses Modell aus Ton, das der Künstler in einer Tupperware nach St.Gallen schickte.

«Das Abenteuerliche besteht darin, dass wir uns immer auf etwas einlassen, bei dem wir nicht wissen, ob es gelingt», sagt Lehner.

Zwischen Hightech und Handwerk

Hinter der Idee der «Kunstgiesserei» steckte erstens Gastlichkeit und zweitens der Wille, kreative Freiräume zu schaffen. Die Gäste, Kunden können in den Atelierhäusern wohnen. Sie sollen hier arbeiten und werden geistig an der Hand genommen, falls gewünscht.

Prix Meret Oppenheim 2025

Das Bundesamt für Kultur zeichnet herausragende Schweizer Kulturschaffende mit dem Grand Prix Kunst / Prix Meret Oppenheim aus. Dieses Jahr drei Persönlichkeiten, die Künstlerin Pamela Rosenkranz, der Architekt Miroslav Šik – und der Kunstgiesser Felix Lehner (*1960 ) für sein Lebenswerk. Als Jurybegründung wird genannt, dass sich Lehners «Kunstgiesserei» seit Gründung 1994 zu einem «Eckpfeiler der Schweizer Kunstszene entwickelt habe. Hervorgehoben wird auch Lehners Entwicklung technischer Prozesse «von Handwerk bis Hightech». Der Preis ist mit je 40 000 Franken dotiert und wird am 16. Juni in Basel verliehen. (M.D.)

Dann sind als Sparringspartner mit dabei an den Öfen, den Schweissgeräten, in der Modellbauwerkstatt, der Emailwerkstatt, der Glasgiesserei, der Töpferwerkstatt, der Glasgiesserei, vor Ort an den Computer-Fräsen so gross wie ein Zimmer, am 3D-Drucker so voluminös wie ein Kleinwagen: Felix Lehner und sein unverzichtbares 100-köpfiges Team.

Kathrinas Frisch‘ ikonischer ‚Blauer Hahn‘ stand am Londoner Trafalgar Square, Höhe fast 5 Meter. Das Team Lehner hat die Technik für die XXL-Original ertüftelt.

Nicht zu vergessen als Inspiration die Kronjuwelen des Geländes, der künstlerische Nachlass des Bildhauers Hans Josephsohn im «Kesselhaus». Der in Gais lebende deutsche Malerfürst Albert Oehlen ist hier zum Josephsohn-Botschafter geworden. Er hat die aktuelle Retrospektive im Musée d’Art Moderne in Paris kuratiert, es ist die erste in Frankreich.

Zum Studium in die Giesserei

In der «Kunstgiesserei» trifft man sich, sucht nach Lösungen. Die geistige Idee findet ihre physische Form. Möglichkeit in Realität überführen, das ist Lehners Absicht. Als Ausdruck dafür gibt es ein anschauliches Beispiel.

Mit auf dem Gelände befindet sich auch die Stiftung «Sitterwerk» als Teil des Unternehmens Kunstgiesserei. Die Stiftung geniesst von Chicago bis Toronto eine enorme Reputation, in der Schweiz kämpft sie mit Geldsorgen. Sie beherbergt eine gewaltige Kunstbibliothek und ein umfangreiches Werkstoffarchiv, ein Highlight für Studierende und Architekten. Dass die Bücher Wand an Wand mit den Öfen stehen, ist gewollt: Geistige Auseinandersetzung und handwerkliche Arbeit sollen im Sittertal verschmelzen.

«Wie viele Hallen sind es inzwischen?» Fragt man Lehner auf dem Rundgang über das Gelände. «100», sagt er und schliesst die eine Tür, um die nächste aufzustossen. Später revidiert er: «Vielleicht sind es auch 20.» Er lacht. Das Areal, das die Kunstgiesserei bespielt, ist seit der Gründung auf 12’000 Quadratmeter angewachsen.

Doch Zahlen sind bedeutungslos, weil statisch. Felix Lehner interessiert sich für den kreativen Prozess. Eine Bewegung ohne Anfang und Ende und von flüssiger Natur. Lehner weiss, wo Neues in die Welt kommt: Im Kopf. Der ist gemäss dem Maler Francis Picabia rund, damit das Denken seine Richtung wechseln kann.