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Abtastende Redensarten: Mit diesen Begriffen können Sie austesten, ob das gegenüber sich für Ihren Vorschlag begeistern lässt
Wer in einen unbeleuchteten Raum tritt und noch nicht weiss, wo sich welche Möbel befinden, tut gut daran, zunächst mit den Händen abzutasten, wo ein Tisch oder wo ein Stuhl steht. Abtasten ist ein Gebot der Vorsicht, um nicht zu stolpern oder anzustossen. Auch beim Sprechen gibt es Situationen, bei denen wir gleichsam in einen dunklen Raum hineinreden, in denen wir abtasten müssen, um nicht zu stolpern.
Ein typisches Abtastwort ist das Adverb «ziemlich». Ziemlich ist nämlich ein ziemlich unpräziser Begriff. Im Duden steht, «ziemlich» könne einerseits «in verhältnismässig hohem Mass» bedeuten. Wer also ziemlich sicher ist, hat ein verhältnismässig hohes Mass an Sicherheit. Umgangssprachlich dagegen bedeutet «ziemlich» meist nur gerade «annähernd» oder «fast».
In unserer Schulzeit gab es im Zeugnis neben den normalen Schulnoten noch drei Einträge über die damals wichtigen Tugenden Fleiss, Betragen und Ordnung. War alles im grünen Bereich, wie man heute sagen würde, stand hinter jedem dieser Punkte das Wort «gut». Gut war das Normale, also das, was man heute «okay» nennen würde. Gab es aber beim Fleiss, beim Betragen oder bei der Ordnung etwas auszusetzen, dann stand nicht «gut», sondern «ziemlich gut».
Im Zeugnis von damals bedeutete «ziemlich» nicht «in verhältnismässig hohem Mass», sondern «annähernd». Schrieb die Lehrperson «ziemlich gut», mussten bei den Eltern alle Alarmglocken läuten, denn «ziemlich gut» hiess in jenem Zusammenhang «nicht gut genug», bloss anders formuliert. Die Lehrerschaft wollte die Eltern nicht schockieren. Dennoch wollte sie klarmachen, dass sich ein Schulkind nicht so verhielt, wie es erwünscht gewesen wäre. Deshalb war «ziemlich» ein abtastendes Wort, ein Wort der Vorsicht und der vornehmen Zurückhaltung.
Ein anderer Begriff, den wir häufig gebrauchen, wenn wir abtastend oder vorsichtig reden wollen, ist das Partikelwort «eigentlich». Wenn der Chef uns kurz vor Feierabend einen Auftrag gibt, können wir sagen, dass wir eigentlich im Begriff waren, aufzubrechen. Damit haben wir einerseits gesagt, dass wir heimgehen wollten. Aber durch den Einschub des Worts «eigentlich» tasten wir ab, ob der Chef auf seinen Auftrag beharren will oder nicht. In diesem Fall heisst «eigentlich» vor allem, dass wir zwar gehen wollten, aber genauso gut auch bleiben könnten.
Auch das Wortpaar «ein bisschen» ist sehr geeignet für eine abtastende Redensart. Manche Leute sagen zum Beispiel, sie seien ein bisschen verzweifelt, um abzuschätzen, was das beim Gegenüber auslöst. Diese Leute tun so, als gäbe es Verzweiflung in verschiedenen Mengen, als sei die Verzweiflung von ihrem Naturell her quantifizierbar. Dabei möchten sie wahrscheinlich nur abtasten, ob ihre Verzweiflung wahrgenommen wird. Ähnlich ist es, wenn jemand behauptet, ein bisschen müde zu sein. Auch das ist eine abtastende Redensart, die darauf bedacht ist, nirgendwo anzustossen.
Abschliessend bleibt ein bisschen zu hoffen, dass das Gesagte nun eigentlich ziemlich klar sein sollte.