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Wird das Gläschen Wein oder die Stange Bier gerade zu stark verteufelt?
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat 2024 ihre Position zum Alkohol verändert. Alkohol sei eine psychoaktive Droge und ein kausaler Faktor für mehr als 200 negative gesundheitliche Folgen wie Krankheiten und Unfälle. Und: Es gebe keine sichere Alkoholmenge für einen unbedenklichen Konsum.
Besonders Anfang der 2000er-Jahre wurde der tägliche Weinkonsum als vorteilhaft für das Herz hervorgehoben. Doch nun gerät der einst in der Gesellschaft weit verbreitete Konsens, mässiger Konsum sei unschädlich, ins Wanken. Christian Wolfrum ist Professor für Ernährungswissenschaften an der ETH Zürich und kritisiert diesen Trend.
In den USA sollen Warnhinweise wegen des Krebsrisikos auf Wein- und Bierflaschen geklebt werden. Was halten Sie davon?
Christian Wolfrum: Nichts. Aber ich muss ausholen. Ich lehre an der ETH Zürich Ernährungswissenschaften und wehre mich seit Jahren gegen Überinterpretationen von Ernährungsstudien. Da fällt auch der Konsum von Alkohol darunter.
Was führt zu Überinterpretationen?
Es sind Aussagen basierend auf Studien, deren Resultate diese Schlüsse gar nicht erlauben. Bei Pharmastudien ist das anders: Dort kann man Effekte und Wirkungen eines Medikaments gut testen. In der Ernährungsforschung ist dem nicht so. So gibt es beim Alkohol viele einzelne Kohortenstudien, in denen Gruppen mit und ohne Alkoholkonsum miteinander verglichen werden. Das Problem dabei ist, dass dabei unwahrscheinlich viele Bias produziert werden. Bias sind systematische Fehler, die zur Verzerrung von Studienergebnissen führen.
Was bedeutet das?
Den Studenten erkläre ich das folgendermassen: Beim Fischkonsum lassen sich Studien finden, die besagen, dass Gruppen mit hohem Fischkonsum weniger Herzinfarkte haben. Daraus schliessen sie, Fischkonsum schütze vor Herzinfarkten. Dann zeige ich den Studenten die nächste Grafik: In einer Gesellschaft, die mehr Schokolade konsumiert, gibt es mehr Nobelpreisträger. Aus dieser statistischen Wechselbeziehung könnte man schliessen, dass Schokolade intelligenter macht. Das ist aber kein kausaler Zusammenhang. So gibt es immer viele Bias. Diese Verzerrungen sind praktisch nicht wegzurechnen.
Auch bei mediterraner Ernährung nicht, die gilt ja als gesund?
Da gibt es tatsächlich Interventionsstudien, die gezeigt haben, dass mediterrane Diät gesund ist. So wie es auch Studien gibt, die zeigen, dass hoch verarbeitete Nahrung ungesund ist. Leider gab es in den letzten Jahren etwas Zweifel an einer sehr grossen Studie zur Diät. Das Fazit ist, dass die Wechselbeziehung zwischen mediterraner Diät und Gesundheit sehr deutlich ist, zur Kausalität gibt es positive Studien, aber auch Zweifler.
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Bild: ETH
Auch bei Alkoholstudien?
Auch da gibt es viele Bias, einer davon ist der Reporting-Bias, ähnlich wie beim Fleischkonsum. Wenn die Befragten sagen, sie essen nur einmal pro Woche Fleisch, essen sie in Wirklichkeit vielleicht viermal davon. Das Ganze bezeichnet man als Overreporting. Beim Alkohol gibt es zum Teil ein Overreporting von bis zu 75 Prozent, vielleicht weil sich die Leute schämen, weil sie gut dastehen wollen, oder weil der gesellschaftliche Druck in Richtung weniger Alkohol geht. Dann gibt es den Abstinenzler-Bias. Eine Gruppe mässig alkoholtrinkender Menschen wird abstinenten Personen gegenübergestellt, die früher viel Alkohol getrunken haben. Die sind deswegen aber oft schon krank, womit die Abstinenz-Gruppe insgesamt kränker beurteilt wird.
Sind gar keine wissenschaftlichen Aussagen möglich?
Wenn man diese Verzerrungen herausrechnet – wenn man sie denn kennt –, bleibt meistens nicht mehr viel übrig von den Aussagen. In der Wissenschaft hat man eine Hypothese, führt ein Experiment durch, welches die Hypothese beweist oder widerlegt. Das ist beim Alkoholkonsum aus praktischen Gründen kaum zu machen und bisher nicht geschehen. Deshalb ist es so wichtig, Meta-Analysen aus mehreren Studien zu machen. Interessant hierbei ist beispielsweise die Umbrella-Meta-Analyse von 2022, die zum Ergebnis kam, dass bei 140 untersuchten Krankheiten wie Schlaganfall und Demenz und anderen ein moderater Alkoholkonsum bei 49 Krankheiten einen positiven und bei 25 einen negativen Effekt hat.
Die perfekte Alkoholstudie gibt es somit nicht?
Nein. Man müsste eine Studie durchführen, bei der eine Gruppe gezielt regelmässig Wein trinkt, und die mit einer Gruppe vergleichen, die keinen Alkohol trinkt. So eine Studie gab es 2018, die ist aber leider nach drei Monaten von den National Institutes of Health gestoppt worden, weil das Auftreten von Krebs nicht in der Studienanlage vorgesehen war. Der Effekt von Krebs kann aber nur mit einer extrem grossen Zahl von Probanden gemessen werden, und dies ist aus praktischen und finanziellen Gründen nicht realisierbar. Das ist einfacher mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Wird der Alkohol jetzt also verteufelt?
Es scheint so, wenn man die Artikel in den Medien anschaut. Genau das geschah eine Weile lang mit dem Fleisch – in den Medien wurde von der Todesursache Nummer 1 gesprochen. Dann kam eine grosse Studie heraus, die zum Schluss kam, die Effekte von vegetarischer Ernährung seien statistisch nicht unterscheidbar von solcher mit wenig Fleischkonsum. Etwas Ähnliches sieht man nun auch beim Alkohol.
Es gibt mehrere, auch neuere Studien, die besagen, dass Alkohol ein Zellgift ist, das sich auf alle Organe im Körper auswirkt. Bezweifeln Sie das?
Beinahe alle Substanzen sind ein Zellgift, denn Zellen sind sehr sensitiv auf ihr Umfeld. In grossen Mengen ist Alkohol sicher ein Zellgift. Aber ob man bei sehr kleinen Mengen im Blut bereits von Zellgift reden kann, dazu gibt es keine Daten. Gibt man Alkohol im Labor auf eine Zelle in Kulturen, sterben die Zellen. Aber genau das gilt auch für andere Substanzen. Gibt man zum Beispiel Vitamin C in hoch dosierten Mengen auf Zellen, sterben sie ebenfalls. Trotzdem würde niemand Vitamin C als Zellgift bezeichnen. Somit ist alles wie immer eine Frage der Menge.
Wohl besonders beim Alkohol.
Zu viel davon ist nicht gut. Beim Alkohol kommt das Problem der Abhängigkeit dazu. Aber ich wehre mich gegen die Aussage, dass jedes Glas schon zu viel ist. Gleichzeitig würde ich aber auch nicht empfehlen, jeden Tag aus gesundheitlichen Gründen ein Glas Wein zu trinken. Zum mässigen Alkoholkonsum gibt es eine im Dezember 2024 publizierte Meta-Analyse von vielen Studien der «National Academy of Sciences, Engineering, and Medicine», die der US-Kongress in Auftrag gegeben hat.
Was sagt diese Studie der National Academy?
Sie kommt unter anderem zum Schluss, dass die Mortalität etwas niedriger ist, wenn man ein bisschen Alkohol trinkt. Nur beim Brustkrebs bei Frauen bestätigt man einen kaum messbaren Effekt durch moderaten Konsum. Aus Daten dieser aktuellen Studie kann man schliessen, dass mässiger Konsum mit einem positiven Effekt auf Herz-Kreislauf-Krankheiten und mit einem negativen auf den weiblichen Brustkrebs einhergeht. Aber auch diese Effekte sind kaum feststellbar und zudem abhängig vom Individuum. Deshalb gefällt mir der anfangs erwähnte Warnhinweis nicht, weil er nicht die wissenschaftliche Datenlage widerspiegelt.
Also lässt sich auch das mit dem gesunden Glas Wein pro Tag nicht wissenschaftlich festmachen?
Wenn man die zahlreichen Studien ansieht, sieht es so aus, als ob ein moderater Alkoholkonsum mit positiven Effekten auf Herz-Kreislauf-Krankheiten korreliert. Die erwähnte Studie der National Academy kann diese Schlussfolgerungen bestätigen. Aber ich würde trotzdem keine Aussage zu einem kausalen positiven Effekt machen. Ein positiver Effekt könnte auch zustande kommen, weil Leute, die Wein trinken, oft entspannter sind. Vielleicht schützt sie der Entspannungseffekt vor einem Herzinfarkt und nicht der Wein selbst.
Ist Alkohol dann nicht immer noch zu stark akzeptiert in der Gesellschaft?
Natürlich gibt es eine Suchtproblematik. Alkohol ist leicht zu bekommen und kann eine Droge sein, das ist unbestritten. Jeder Einstieg beim Alkohol kann gefährlich sein und zu exzessivem Alkoholkonsum führen.
Unterschätzen Menschen nicht oft, wie viel sie wirklich trinken, und sind eigentlich Alkoholiker, weil sie ohne nicht mehr funktionieren?
Das ist ein schmaler Grat. Aber da reden wir über Sucht, da bin ich kein Spezialist. Ich spreche hier von moderatem Konsum. Aber es gibt sicher Leute, die ihren Konsum unterschätzen und sich damit schaden.
Für die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung gilt als risikoarmer Alkoholkonsum, wenn Männer maximal zwei Standardgläser und Frauen ein Standardglas pro Tag trinken und an zwei Tagen total verzichten. Ist das angemessen?
Das zählt als moderater Konsum, also kann man wie eingangs beschrieben auf der Basis der wissenschaftlichen Daten nicht sagen, ob es der Gesundheit deutlich hilft oder schadet. Wenn man etwas täglich macht, ist das meiner Meinung nach aufgrund der Suchtproblematik nicht ideal.