
«Das ist ein Paradigmenwechsel»: Das Parlament will die freie Arztwahl einschränken
Die freie Arztwahl galt bisher als unantastbar in der Gesundheitspolitik. Vorschläge, die sie einschränken wollten, wurden jeweils von Volk und Parlament abgeschmettert. Zuletzt scheiterte die Managed-Care-Vorlage 2012. Nun hat nach dem Ständerat auch der Nationalrat am Donnerstag genau diese Selbstverständlichkeit ins Visier genommen. Er will den Vertragszwang lockern. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie ist die Situation derzeit?
In der Schweiz haben die Versicherten die freie Arztwahl, weil für Krankenversicherer ein Vertragszwang gilt. Das bedeutet, dass die Krankenkassen grundsätzlich dazu verpflichtet sind, alle zugelassenen Leistungserbringer anzuerkennen. Das gilt als ein Grundpfeiler des Schweizer Gesundheitssystems.
Weil es jedoch an einigen Orten zu Ballungen kommt, während andere Regionen gesundheitlich unterversorgt bleiben, verfügen die Kantone seit 2021 über zusätzliche Instrumente, um die Verteilung zu lenken. Sie können Zulassungsbeschränkungen sprechen und die Spitalplanung an der Wirtschaftlichkeit und der Qualität der Leistungen ausrichten. An der freien Arztwahl wurde aber nicht direkt gerüttelt.
Wie und wieso soll sich das jetzt ändern?
Eine Mehrheit der Gesundheitskommission erachtet die Lockerung des Vertragszwangs als notwendig aufgrund einer Mengen- und Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Die Befürwortenden beklagen, dass die Anforderungen an die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der Dienstleister eine untergeordnete Rolle spielten. Tatsächlich hängt eine Zulassung hauptsächlich von den Ausbildungsdiplomen und der vorhandenen Infrastruktur ab.
Die Instrumente, die das Parlament den Kantonen vor vier Jahren an die Hand gab, hätten nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. Die Befürwortenden wollen deshalb, dass die Krankenkassen bei einem Überangebot nicht mehr alle Dienstleister anerkennen müssen. Sie sollen dazu die objektiven Kriterien verwenden, auf die sich die Kantone schon heute für die Zulassungsbeschränkung stützen.
Was spricht gegen eine Lockerung?
Eine Minderheit der Gesundheitskommission und der Bundesrat warnen vor einer fatalen Machtverschiebung. Statt der Kantone, die im Sinne der öffentlichen Gesundheit handeln würden, würden gewinnorientierte Versicherungen die Kosten stärker gewichten als medizinische Bedenken. Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider sagt: «Das ist ein Paradigmenwechsel.»
Die Gegnerinnen und Gegner kritisieren auch den Zeitpunkt, da derzeit Fachkräftemangel herrscht. Man sende damit die falschen Signale und wisse überdies noch gar nicht, ob die zusätzlichen Instrumente wirken. Baume-Schneider sagt: «Die Zusatzregelung müsste erst jetzt ihre Wirkung entfalten.»
Die Ratsminderheit hätte lieber über degressive Tarife (also sinkende Einnahmen bei steigender Anzahl an Behandlungen pro Patient), bessere Rechnungskontrollen und Sanktionen bei unnötiger Behandlung diskutiert.
Was sagen die Ärzte und Kantone?
Auch die Kantone und die Ärzteverbindung FMH und andere Berufsverbände haben sich kritisch geäussert – die Berufsverbände haben gar einen Brief an den Nationalrat geschrieben. Während die Kantone mehr Bürokratie und Gerichtsverfahren fürchten, warnen die Ärzte vor der Benachteiligung Schwerkranker, wenn die Kosten das Hauptkriterium bilden.
Dem widerspricht allerdings ein Versicherungsexperte, der gegenüber dem «Tages-Anzeiger» betont, dass die meisten Privatversicherungen mit allen Spitälern Verträge hätten, obwohl sie keinem Vertragszwang unterliegen. Ihnen sei nämlich bewusst, dass die Versicherten sich ihrem Hausarzt verbundener fühlten als ihrer Versicherung.
Wie geht es jetzt weiter?
Mit 113 zu 72 Stimmen hat der Nationalrat nun den Bundesrat beauftragt, eine Gesetzesänderung auszuarbeiten. Sobald das geschehen ist, kommt die Vorlage wieder ins Parlament. Sollten National- und Ständerat die Anpassungen gutheissen, wird wahrscheinlich das Volk darüber befinden. Die Ärzteverbindung FMH oder andere Gesundheitsorganisationen dürften nämlich das Referendum dagegen ergreifen.