
Elke Heidenreich an Peter Bichsel: «Jetzt sind wir alt, nicht mehr immer lustig, aber immer noch süchtig»
Eine Erinnerung an meinen Freund Peter Bichsel
Einmal vor na, es müssen 40 Jahre sein oder sogar noch mehr, einmal also vor noch mehr als 40 Jahren war Peter Bichsel mein Gast in der berühmten WDR Radiosendung «Unterhaltung am Wochenende», die ich ab und zu Samstags moderierte. Ich reiste damals aus Baden-Baden an, er aus Solothurn, und wir tranken tüchtig, vorher, während, danach, es war eine schöne Sendung, wir redeten über das Lesen und das Schreiben und Peter las langsam und verschmitzt kleine Geschichten vom Onkel Jodok.
Dann brachte er mich zum Bahnhof, sein Zug fuhr erst später und meiner war noch nicht da und wir redeten weiter und kamen auf Brentano, wie? Warum? Was weiss denn ich, mit Peter Bichsel kommt man eben in einem Gespräch auf Clemens von Brentano, und er war entsetzt, dass ich dessen Erzählung «Die mehreren Wehmüller und die ungarischen Nationalgesichter» nicht kannte, und er begann zu erzählen, stockte dann, drehte sich um und ging weg.
Ich wunderte mich ein bisschen, ich dachte: Ist er mir jetzt böse, weil ich das nicht kenne? Oder bin ich ihm vielleicht zu blöd, weil ich das nicht kenne? Oder haben wir einfach beide nur zu viel getrunken und mal ist es auch gut?

Bild: Robert Grogg (1995)
Ich stand da und überlegte vor mich hin, freute mich über die schöne Sendung, die wir hingelegt hatten und wartete auf meinen Zug. Als der gerade einfuhr, kam Peter Bichsel die Rolltreppe hoch und lief zu mir, für seine Schweizer Verhältnisse erstaunlich schnell. Er hatte eine Tüte in der Hand, ein Buch darin, er gab mir Buch und Tüte und sagte: «Da!» Und: «Lies das!» und: «Gute Reise!» und: «War schön heute, was?» Und dann stieg ich ein.
In der Tüte war noch mit Kassenzettel Clemens von Brentanos Erzählung «Die mehreren Wehmüller und die ungarischen Nationalgesichter», und daran sieht man erstens, was für ein Freund der Peter ist und zweitens, wie grandios bestückt der wunderbare Taschenbuchladen im Kölner Hauptbahnhof war. Den hatte Peter Ludwig in den 1950er Jahren gegründet, er war zwei Etagen tief und war nicht nur der erste Taschenbuchladen überhaupt, sondern der erste grandios geordnete Taschenbuchselbstbedienungsladen, was der Peter Bichsel alles wusste und wo er unter B, Brentano, sofort die mehreren Wehmüller gefunden und für mich gekauft hatte.
Weltliteratur für ein breites Publikum, das war die Idee, und das breite Publikum war jetzt ich in meinem Rheingoldzug, damals noch mit Panoramawagen, und ich las und lachte und war glücklich – über Brentano, über Herrn Wehmüller, über die gerissenen Ungarn mit den Nationalgesichtern, über den WDR, über den Rheingold mit Panoramawagen, über einen Freund wie den Peter Bichsel. Wir waren jung und lustig und süchtig nach Texten. Jetzt sind wir alt, nicht mehr immer lustig, aber immer noch süchtig und dankbar für solche Freundschaften.