
«Putin weiss, dass sich das Zeitfenster für seine Kriegsziele immer mehr schliesst»
Die Verhandlungen über einen Waffenstillstand oder Frieden in der Ukraine gehen – wenn überhaupt – nur schleppend vorwärts. Es wirkt so, als wäre US-Präsident Donald Trump langsam frustriert. Sehen Sie das auch so?
nUlrich Schmid: Definitiv. Allerdings weiss man bei Trump gar nicht, ob es ihm tatsächlich um den Frieden in der Ukraine geht. Oder vielmehr um den Friedensnobelpreis für sich selbst.
Zu welcher Variante tendieren Sie?
Zu keiner der beiden. Ich glaube, dass Trump mittlerweile eingesehen hat, dass ein Frieden in der Ukraine unrealistisch ist. Vor allem im Zeitraum, den er sich selbst gesetzt hat. Trump fabulierte einst von 24 Stunden, dann sind es 100 und später 180 Tage geworden. Vergangene Woche sagte er, bei den Verhandlungen laufe es «not bad». Würde es jedoch wirklich «nicht schlecht» laufen, hätte er in seiner effekthascherischen Art gesagt, die Lage sei «terrific».
«Putin hat immer Ja gesagt und Nein gemeint.»
Sie sagen, bei den Friedensverhandlungen gebe es keine richtige Strategie. Weshalb nicht?
Ganz einfach, weil Putin nicht mal einen Waffenstillstand möchte. Das sah man jüngst beim vereinbarten Waffenstillstand für Energieinfrastruktur: Putin hat immer Ja gesagt und Nein gemeint. Er kommt jeweils mit einer Vielzahl von Zusatzbedingungen, die für seine Vertragspartner unmöglich zu erfüllen sind.
Ulrich Schmid ist Professor für Osteuropastudien an der Universität St. Gallen (HSG). In seiner Forschung beschäftigt er sich insbesondere mit der russischen, ukrainischen und polnischen Kultur sowie dem Nationalismus in Osteuropa. Schmid gilt als einer der bekanntesten Russland-Experten der Schweiz.
Der US-Sondergesandte Steve Witkoff hat sich in den vergangenen Wochen mehrfach mit Wladimir Putin getroffen. Das letzte Treffen dauerte über vier Stunden. Ist Witkoff der richtige Mann?
Hierzu muss gesagt sein, dass ursprünglich Keith Kellogg der US-Sonderbeauftragte für Russland und die Ukraine war. Kellogg möchte den Konflikt jedoch einfrieren, was für die Russen vollkommen inakzeptabel ist. Trump ist auf Druck des Kremls eingeknickt und hat Kellogg zum reinen Ukraine-Beauftragten degradiert. Nachfolger Witkoff gehört ganz klar zum russlandfreundlichen Lager. Er und Trump wiederholen gebetsmühlenartig, dass Putin Frieden wolle, obwohl es dafür überhaupt keine Anzeichen gibt.
«Putin möchte als der, der die russischen Länder wieder vereinigt hat, in die Geschichtsbücher eingehen.»
Mit «den Konflikt einfrieren» meinen Sie, dass man wartet, bis Putin einst nicht mehr an der Macht ist?
nGenau. Der Sinn dahinter ist, auf eine für beide Seiten akzeptable Lösung hinzuarbeiten, die in einer Post-Putin-Ära realisiert wird. Unter Putin kommt das überhaupt nicht infrage. Er hat sein politisches Schicksal mit diesem Krieg verbunden. Putin möchte seine historische Mission vollenden und als der, der die russischen Länder wieder vereinigt hat, in die Geschichtsbücher eingehen.
Obwohl Trump dem russlandfreundlichen Lager angehört, scheint er die Geduld zu verlieren. Wieso verschärfen die USA nicht einfach die Sanktionen?
Der inzwischen degradierte Keith Kellogg hat das Anfang Jahr bereits vorgeschlagen. Wenn man sieht, wie sorglos Trump Verbündete vor den Kopf stösst, hat er gegenüber Putin erstaunliche Beisshemmungen. Dabei gäbe es sehr effiziente Sanktionen.

Bild: Evan Vucci / AP
Zum Beispiel?
Sekundäre Zölle. Also Zölle für Staaten wie Indien, die sehr viele russische Rohstoffe kaufen. Aber offenbar fehlt Trump trotz Putin-Frust der politische Wille, solche Sanktionen umzusetzen.
«Die Vorwürfe gehen so weit, dass man sagt, Trump sei bei einem Besuch in den 80er-Jahren für den russischen Geheimdienst angeworben worden.»
Wie ist das zu erklären?
Da gibt es einen kurzfristigen und einen langfristigen Faktor. Der kurzfristige Faktor ist der, dass es Gerüchte gibt, dass Russland über kompromittierendes Material gegen Trump verfügt. Die Vorwürfe gehen so weit, dass man sagt, Trump sei bei einem Besuch in den 80er-Jahren für den russischen Geheimdienst angeworben worden. Das sind alles nicht belastbare Theorien, aber ein Motiv, das man im Hinterkopf behalten muss.
Welcher ist der langfristige Faktor?
In Trumps Umfeld kursiert die utopische Idee, dass die USA und Russland in Zukunft gemeinsam die Energieversorgung der Welt orchestrieren. Deutlich zur Sprache kam sie beim skandalösen Interview, das Fox-Moderator Tucker Carlson kürzlich mit Steve Witkoff geführt hat. Dort haben die beiden diese Idee mit leuchtenden Augen diskutiert. Wenn solche Weltumbaupläne bei Trump und seinem Umfeld wirklich existieren, kann es gut sein, dass die US-Regierung nicht zu viel Geschirr zerschlagen möchte, indem sie Russland mit zusätzlichen Sanktionen belegt.

Bild: Mystyslav Chernov / AP
Welches Interesse an einem Waffenstillstand oder gar Frieden haben die USA und Trump überhaupt? Sind es Bodenschätze wie die Seltenen Erden?
Die seltenen Erden sind eine fixe Idee von Trump. Natürlich gibt es diese Seltenen Erden in der Ukraine. Man weiss jedoch nicht einmal, ob sich ein Abbau überhaupt lohnt. Die USA argumentierten, sie könnten mit amerikanischen Firmen in der Ostukraine Seltene Erden abbauen, dann würden die Russen dort nicht mehr angreifen. Eine militärische Unterstützung der Ukraine brauche es dann nicht mehr. Doch auch das ist völlig blauäugig.
«Damit wäre die Ukraine den USA auf Generationen hinaus ausgeliefert.»
Wie steht es denn um das Rohstoffabkommen, das den USA als Gegenleistung für militärische Unterstützung Zugang zu ukrainischen Rohstoffen wie den angesprochenen Seltenen Erden verspricht?
Dass Sie diese Frage stellen, ist Ausdruck der chaotischen und sprunghaften Politik der Trump-Administration. Dass das Rohstoffabkommen überhaupt auf den Tisch kam, war schon absurd. Trumps erklärte Agenda ist, Frieden in der Ukraine zu schaffen. Mit Frieden hat dieser Rohstoffdeal allerdings überhaupt nichts zu tun. Die USA wollen die Kosten für ihre militärische Unterstützung für die Ukraine wieder hereinholen. Damit wäre die Ukraine den USA auf Generationen hinaus ausgeliefert. Das Rohstoffabkommen ist eine weitere Nebelpetarde von Trump, um vom Scheitern eines schnellen Friedens abzulenken.
Sie sagten vorhin, dass vonseiten Russlands keinerlei Bereitschaft für einen Waffenstillstand oder Frieden besteht. Dann bleibt nur noch ein sogenannter Diktatfrieden, über den Kopf der Ukraine hinweg.
Das ist so. Putin hat die Bedingungen am Vorabend der Bürgenstock-Konferenz ganz konkret genannt. Die ukrainische Armee muss sich aus den Gebieten in der Ostukraine zurückziehen, die Russland im Herbst 2022 annektiert hat. Die Ukraine darf darüber hinaus nicht der NATO beitreten, sie muss «entnazifiziert» werden, sprich, es muss einen Regierungswechsel geben.
Dazu müssen die Rechte der russischsprachigen Minderheit in der Ukraine garantiert und die Grenzen der Russischen Föderation international anerkannt werden. Plus die Aufhebung der Sanktionen. Da gibt es aus der Sicht Russlands nichts zu verhandeln. Die europäischen Staaten wiederum würden diese Art von Frieden niemals akzeptieren.
«Medwedew ist der Kettenhund, der an der Kette reisst, bellt und mit Atomschlägen und Angriffen auf NATO-Staaten droht.»
Deutschlands designierter Kanzler Friedrich Merz hat letzte Woche erneut bekräftigt, die Lieferung des Taurus-Marschflugkörpers und die Zerstörung der Krim-Brücke seien eine Option. Dmitri Medwedew, der stellvertretende Leiter des russischen Sicherheitsrates, hat Merz bereits im vergangenen Jahr gewarnt und jetzt auf X geschrieben: «Denk nochmals nach, Nazi!» Ist das ernst zu nehmen?
Nun ja, das ist aktuell die Aufgabe von Medwedew. Er ist der Kettenhund, der an der Kette reisst, bellt und mit Atomschlägen und Angriffen auf NATO-Staaten droht. Das hat rhetorische und strategische Gründe. Durch Medwedews Herumpoltern kann Russland Putin in westlichen Medien als gemässigt erscheinen lassen.
Was, wenn Merz den Taurus wirklich liefert?
Militärexperten sagen, dass das nicht der Gamechanger sei, der den Krieg zugunsten der Ukraine kippt. Es gibt viele offene Fragen. Wir wissen nicht einmal, ob die Taurus-Marschflugkörper tatsächlich Ziele tief im Inneren Russlands angreifen dürften.
Russlands Abnutzungsrate ist immens. Es kommt immer öfter die Frage auf, wie lange Putin den Krieg überhaupt noch aufrechterhalten kann. Wie fest schadet ihm der tiefe Erdölpreis seit Trumps Strafzoll-Ankündigung?
Der schadet ihm sehr stark. Das russische Staatsbudget rechnet mit einem Erdölpreis von 70 Dollar pro Barrel Brent. Nach Trumps Zollhammer lag der Preis zwischenzeitlich bei 58 Dollar, aktuell sind wir bei 67 Dollar, gemäss Prognosen kann der Ölpreis jedoch wieder fallen. Russland kann weiter in enormen Mengen Rohstoffe verkaufen, aber nicht mehr zum Preis wie vor dem Krieg.
Dieser kostet ihn rund 120 Milliarden Dollar pro Jahr. Die Wirtschaftslage Russlands ist ein enormes Problem, das Putin nicht ewig durchstehen kann. Gegen aussen streitet er dies natürlich ab. Dabei weiss er sehr gut, dass sich das Zeitfenster für das Erreichen seiner Kriegsziele immer mehr schliesst.
«Als die russischen Militäraktionen ins Stocken gerieten, begann Putin mit Schlägen auf zivile Infrastruktur und nahm zivile Opfer in Kauf. Diese Strategie geht jedoch nicht auf.»
Am Palmsonntag starben bei einem russischen Angriff auf die Stadt Sumy über 30 Zivilisten. Zehn Tage zuvor kamen bei einer Attacke auf Krywyj Rih, die Heimatstadt von Präsident Selenski, 19 Menschen, darunter 9 Kinder, ums Leben. Es war der tödlichste einzelne Angriff auf Kinder seit Kriegsausbruch. Was möchte Putin mit solchen Kriegsverbrechen erreichen?
Sie sind Ausdruck eines grausamen Zynismus, den man in Moskau beobachten kann. Dort wurde seit Kriegsausbruch immer wiederholt, man greife ausschliesslich militärische Einrichtungen in der Ukraine an. Gleichzeitig ist es der Höhepunkt einer Taktik, die der Kreml seit Herbst 2022 verfolgt. Damals kam es zur erfolgreichen Gegenoffensive der Ukraine, wo sehr weit besetzte Gebiete befreit wurden. Als die russischen Militäraktionen ins Stocken gerieten, begann Putin mit Schlägen auf zivile Infrastruktur und nahm zivile Opfer in Kauf. Diese Strategie geht jedoch nicht auf.

Bild: Volodymyr Hordiienko / AP
Weshalb nicht?
Putin möchte mit solchen absolut rücksichtslosen Angriffen und schweren Kriegsverbrechen die ukrainische Bevölkerung zermürben und zur Einsicht zwingen. Allerdings ist in der Ukraine im Moment das Gegenteil der Fall. Man kann vielmehr diesen «Rally around the flag»-Effekt beobachten. Diese Theorie besagt, dass Menschen in Krisenzeiten dazu neigen, sich zusammenzutun und ihre politische Führung zu unterstützen. Russlands Vorgehen stärkt den ukrainischen Widerstandswillen.