Die Königin der Instrumente und ihre neue Chefin – Aurore Baal dirigiert 4685 Stimmen
Als würde sie tanzen, tanzen im Wasser: Die Füsse fliessen über die Pedale, oben wellen sich die Arme, sie wogt und wiegt in diesem Klang, der so wuchtig, so einnehmend ist, als würde man darin schwimmen. Manche Töne sind hoch und fein, als würde ein Gischttröpfchen zerplatzen, manche Töne klingen nach sturmschwarzer Wucht, tief und schwer, dass es einem im Magen vibriert. Die Königin der Instrumente, wie passend doch dieser Name für die Orgel ist. Und Aurore Baal (33) ist ihre neue Chefin.
Vor einem halben Jahr hat Aurore Baal das Amt als Hauptorganistin der Stadtkirche Aarau von Nadia Bacchetta übernommen. Aurore Baal ist in der Normandie geboren, für sie ist die Orgel deshalb keine Königin, sondern ein König; l’orgue. Vor allem ist die Orgel aber eines für sie: Freiheit.
An der Orgel fand sie die Ruhe, die sie vermisst hatte
Bereits als junges Mädchen in einer Eliteklasse für Klavier in Lisieux aufgenommen, bedeutete die Orgel für sie ein Ausbrechen, eine Entdeckungsreise. Nicht mehr nur 88 Töne wie auf dem Klavier, sondern Tausende. «Neben der Strenge des Klaviers hat mich die Orgel in ihrer ganzen Vielfalt enorm fasziniert. Die Orgel war für mich Entspannung.» Nicht nur mit ihrer Klangwelt, sondern auch mit ihrer Einsamkeit. «Ich bin mit vier Geschwistern aufgewachsen, da war immer viel los», sagt Aurore Baal. Einsam der Orgelbank, allein in einer Kirche, fand sie die Ruhe, die sie insgeheim vermisst hatte.
War es die ersten Jahre ein Spielen, ein Ausloten, war es schliesslich die Entdeckung des französischen Komponisten und Organisten César Franck (1822–1890), der sie den Entscheid treffen liess: «Die Orgel ist mein Instrument, jetzt will ich es lernen.» 14 Jahre war sie damals alt.
«Ich hatte direkt ein Klangbild im Kopf»
Aurore Baal studierte in Lyon, Hamburg, Basel und Freiburg zunächst Klavier, dann Musikwissenschaft und schliesslich Orgel an der Schola Cantorum in Basel. Mit 25 Jahren gewann sie den Orgelwettbewerb in Epinal, mit 27 Jahren wurde sie mit dem Hofhaimer-Preis ausgezeichnet. Diese Auszeichnung ermöglichte es ihr, Konzerte in ganz Europa zu geben. Inzwischen hat sie verschiedene Ensembles gegründet und unterrichtet; nicht nur privat, sondern auch an der Haliciana Schola Cantorum in Lemberg und Kiew. Seit 2011 lebt Baal in der Schweiz, zuletzt war sie Hauptorganistin der Pfarrei Sankt Michael in Zug. Im Sommer ist sie nach Aarau gezogen.
Hauptorganistin Aurore Baal hat von ihrer Vorgängerin Nadia Bacchetta die Organisation verschiedener Formate wie die Kurzkonzerte «Orgel plus» übernommen. Weiter organisiert sie den «Klingenden Adventskalender», die halbstündige Musiküberraschung über Mittag (12.30 bis 13 Uhr). Ab Januar wird Baal zudem den Kinderchor Voices übernehmen, ein gemeinsames Projekt der reformierten und der römisch-katholischen Kirchen Aarau. Als eines der persönlichen Highlights bezeichnet Baal das Konzert der Basler Madrigalisten, die am 19. November unter dem Titel «Mondenglanz» zu Ehren von Joachim Raffs 200. Geburtstag auftreten.
Als ihr ein Freund das Stelleninserat für Aarau gezeigt hatte, war für sie rasch klar: Das ist es. Und das, obwohl sie die drei Orgeln der Stadtkirche noch nie zuvor gespielt hatte. «Ich wusste, dass Aarau zwei Kuhn-Orgeln hat, da hatte ich direkt ein Klangbild im Kopf.» In der Stadtkirche könne sie ihr ganzes breites Repertoire spielen, von Bach bis zu Werken aus den Siebzigerjahren. «Die beiden Orgeln, die Hauptorgel und das Schwalbennest, ergänzen sich hervorragend.» Dazu kam die Vielfalt der Zusammenarbeit; mit vier Pfarrpersonen, all den unterschiedlichen Musikerinnen, Ensembles und Solisten. Und nicht zuletzt waren es Akustik und Optik des Kirchenraums, die Baal gefallen: «Die Stadtkirche Aarau ist der Basler Predigerkirche sehr ähnlich, die mir während meiner Zeit an der Schola Cantorum sehr ans Herz gewachsen ist.»
In den letzten sechs Monaten hat Baal nicht nur ihre Instrumente, sondern auch die Kirchgemeinde kennen gelernt. «Ich fühle mich sehr wohl in Aarau», sagt sie, «die Menschen hier sind sehr kompetent, in allen Bereichen.»
Und die Orgeln? Aurore Baal strahlt. Ja, die haben es ihr angetan. Das sieht man ihr an, beim Spielen umso mehr. 4685 Stimmen zählt die Hauptorgel, mit Pfeifen, dick wie eine italienische Salami und dünn wie ein Bleistift, und sie spielt damit in einer erstaunlichen Leichtigkeit. Das braucht natürlich Training; drei Stunden pro Tag übt sie, dazu kommt Kampfsporttraining. Und auch das betreibt Aurore Baal mit Leidenschaft: Sie unterrichtet nicht nur Orgel, sondern auch Aikido.