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«In Basel lernte ich Tiefschneelaufen»: Joachim Rittmeyer blickt auf seine 50-jährige Bühnenkarriere zurück
Sei es als Vieldenker Brauchle oder als Teilzeitanarcho Metzler: Seit fünf Jahrzehnten prägt Joachim Rittmeyer mit seinen Bühnen-Personagen die Schweizer Kleinkunstszene. Mit dem Solo «Nachlassspass» verabschiedet sich der 73-Jährige von den schwarzen Brettern. Zumindest provisorisch.
Vor 50 Jahren sind Sie von St. Gallen nach Basel gezogen, weil man «mit Umarmungen nicht weiterkommt». Hat man Sie in Basel mit weniger offenen Armen empfangen?
Durchaus! Man hat in Basel nicht auf einen Ostschweizer gewartet. Hier lernte ich erst Tiefschneelaufen. In St. Gallen hat man seinen kabarettistischen Nachwuchs gefeiert, ihm den Schnee aus dem Weg geräumt, sozusagen. Ich habe noch Widerstand gebraucht. In der Fremde muss man auch Wege gehen, die noch nicht gepfadet sind.
Wie haben Sie Fuss gefasst?
Es ging rasch los mit Auftritten im damaligen Café Teufel. Anders als in der Heimat waren in Basel die Inhalte, die ich auf die Bühne brachte, wichtiger als meine Person. Kulturell und politisch hat mich diese Stadt immer sehr angezogen, mit dem Hafen, dem Dreiländereck, der Fasnachtskultur … Obwohl ich mich dort weitgehend raushalte.
Ist die Schnitzelbank nicht eine Artverwandte des humoristischen Sprechvortrags?
(Lacht.) Ich wurde schon ein paar Mal angefragt. Aber die Formen und Traditionen der Fasnacht sind sehr streng, es gibt wenig kreative Freiheit. Die drey scheenschte Dääg sind ein kontrollierter Ausbruch – mit Betonung auf «kontrolliert».
Kürzlich hatten Sie im Teufelhof Ihren letzten Auftritt. Wann ist der richtige Moment zum Aufhören?
Wenn jede Figur anfängt zu hinken … Spass beiseite: Mein Körper ist Teil der darstellerischen Arbeit und er macht mit meinen 73 Jahren langsam nicht mehr alles mit. In dem Moment, in dem man seine Kunst noch beherrscht, aber langsam nachlässt, ist es Zeit für den Abgang. Selbst wenn einem ständig noch die Ideen zulaufen.
Zulaufen?
Ideen sind wie unverhoffte Haustiere. Man muss sich bloss umdrehen: ‹Oh, scho wieder e Chatz! Was mach ich jetzt mit ihr?› Ich muss mir einen Weg überlegen, zu verwerten, was da kommt. Man muss sich um die guten Einfälle kümmern, ob man will oder nicht.
Für welche Ihrer Figuren gingen Ihnen die Pointen am flottesten von der Hand?
Ausschlaggebend war eher die Idee als die Figur. Die Umsetzung ist dann nur das Dessert. Am schwierigsten waren die Sequenzen für Hanspeter Brauchle zu schreiben. Das Publikum muss im Prinzip ahnen, was er sagen will, bevor er es selbst weiss.
Sie haben eine Carte blanche: Wer soll nach Ihnen die Rolle von Brauchle übernehmen?
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Bild: Kenneth Nars
Eine gute Frage. Hanspeter Müller-Drossaart könnte ich mir vorstellen. Oder Mike Müller! Wobei der auch ein guter Theo Metzler wäre. Brauchle ist einer, der Schwäche zeigt, der offenlegt, was andere verschweigen. Er hat praktisch keine Überlebenschancen.
Was interessiert Sie an den Aussenseitern?
Loser sind weitaus interessanter als Mitschwimmer. Ich habe den Eindruck, dass diejenigen, die nicht mit Erfolgen aufwarten können, ein reicheres Innenleben haben als diejenigen, die als gesellschaftlich relevant gelten. Wenn man bemerkt, dass man in der Gesellschaft aneckt, muss man sich mehr Strategien zurechtlegen, um mit sich selbst zurechtzukommen.
Sie verwalten in Ihrem letzten Programm Ihren «Nachlass», auch frühere Stücke spielten gerne mal am Sterbebett. Wieso hat das Morbide so viel Humorpotenzial?
Das Leben ist leuchtender, wenn man den Endpunkt im Blick hat. Darum geht es mir. Wir sind alle nur provisorisch hier. Man kann das traurig finden, aber es kann auch lustig sein. Die Realität älterer Menschen hat mich schon als 30-Jähriger interessiert. Indem man kurz vor dem Nicht-mehr-da-Sein lebt, ist man in der Gegenwart präsenter. Mitunter wurde mir das durch den Schweizerhalle-Vorfall im Jahr 1986 bewusst.
Inwiefern?
Die ganze Region rechnete mit dem Schlimmsten. Die Strassen waren verstopft, man wäre nicht weggekommen. Es ging glimpflich aus, aber das Katastrophenpotenzial in dieser Stadt war da. Damals habe ich so richtig realisiert, dass wir nur auf Zeit hier sind. Einen Tag später habe ich im Schützenmattpark zwei Alte erlebt, die es unglaublich lustig hatten. Sie haben einfach nur die Gegenwart gefeiert.