Deutungsstreit: Was heisst das Frontex-Ja für die Europapolitik?
«Frontex tötet» steht in grossen Buchstaben auf einem Transparent, das an der Berner Reitschule prangt. Im alternativen Kulturzentrum trafen sich am Sonntag die Gegner der Frontex-Vorlage. Es war ein kleines Trüppchen, das sich zur Besprechung der Abstimmungsniederlage traf. 71,5 Prozent sagten Ja zum Ausbau der Schweizer Beteiligung. Künftig wird die Schweiz jährlich 61 Millionen Franken an die EU-Grenzagentur bezahlen. Zudem wird sie auch mehr Personal zum Schutz der Schengen-Aussengrenze stellen.
Das Referendum ergriffen hatte das «Migrant Solidarity Network». Auch die Grünen gehörten zu den Unterstützern der ersten Stunde. Die Referendumsführer urteilten hart über das Volksverdikt: «Dieses Ja ist rassistisch» steht auf einem Plakat in der Reitschule. Grünen-Präsident Balthasar Glättli ist auch vor Ort. Er analysiert die Abstimmungsniederlage nüchterner: «Das ist ein Ja zur Zusammenarbeit mit Europa und nicht ein Ja zur Verletzung der Menschenrechte durch Frontex», sagt Glättli. Auch das links-grüne Elektorat habe kein Interesse gehabt, die schwierigen Beziehungen mit der EU weiter zu verkomplizieren. Die Befürworter hatten im Abstimmungskampf argumentiert, bei einem Nein sei die Mitgliedschaft bei Schengen/Dublin gefährdet.
Grosse Abwesende in der Reitschule war die SP. Sie hatte das Referendum ebenfalls unterstützt. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass etliche Sozialdemokraten darauf gehofft hatten, dass das Referendum gar nicht erst zu Stande kommt. Sinnbildlich dafür: In der Medienmitteilung zum Abstimmungssonntag wird Frontex zuletzt erwähnt.
«Für die SP war die Ausgangslage unangenehm»
Der Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch kämpfte zuvorderst für ein Nein. Er betonte auch am Abstimmungssonntag, dass seine Partei nicht gegen den Ausbau des Schweizer Beitrags gewesen sei. Sondern sich humanitäre Abfederungsmassnahmen – sprich legale Fluchtrouten – gewünscht hätte. Und mit einem entsprechenden Plan B die Schweiz auch nicht aus dem Schengen-Raum geflogen wäre. Es war also eher ein Jein als ein Nein zu Frontex. Eine komplizierte Argumentation, die auch im links-grünen Lager nicht verfangen hat. Jositsch sagt es so: «Für die SP war die Ausgangslage unangenehm, weil wir grundsätzlich eine europafreundliche Partei sind.» Ein Sieg an der Urne sei von Anfang an illusorisch gewesen: «Doch der Abstimmungskampf war wichtig. Die Probleme von Frontex wurden breit diskutiert, und es ist klar, dass nun die Bundesräte Ueli Maurer und Karin Keller-Sutter ihre Hausaufgaben machen müssen.» Maurer, indem er bei Frontex Druck für Reformen macht. Und Karin Keller-Sutter, indem sie in Brüssel Einfluss nimmt auf eine Reform des Dublin-Systems. «Die Push-backs geschehen aus Verzweiflung. Weil die ganze Last des Dublin-Systems an den Staaten der EU-Aussengrenze lastet», sagt Jositsch.
Der Zürcher Ständerat geht davon aus, dass ein grosser Teil der SP-Basis entgegen der Parteiparole Ja gesagt hat zum Frontex-Ausbau. Ein grosser Anteil der Nein-Stimmen sei aus dem SVP-Lager gekommen, das grundsätzlich gegen Schengen/Dublin ist. Dennoch sagt Jositsch, er glaube nicht, dass die Partei an der Basis vorbei politisiere. Aber: «Ein grosser Teil der SP-Wähler ist proeuropäisch eingestellt. Dieser war verunsichert, und es ist uns nicht gelungen, diese Widersprüche aufzulösen.» Was heisst das für die Europapolitik der SP, deren Kurs zuletzt stark von den Gewerkschaften geprägt war? «Ich würde mich freuen, wenn diese Abstimmung als Wink verstanden würde.»
Die EU begrüsst den Entscheid
Was heisst das Ja für die Beziehungen mit der EU? Diese Frage stellten sich gestern viele. SVP-Ständerat Werner Salzmann machte im Interview mit SRF deutlich, es sei bei dieser Vorlage nur um die Sicherheit gegangen. Das Ja habe nichts mit der EU zu tun. Das sahen aber längst nicht alle so. Auch Mitte-Nationalrat Thomas Rechsteiner (AI) betonte die Bedeutung der Vorlage für die Sicherheit der Schweiz. Seine Partei hielt aber auch fest, dass das Ja ein Ja zur Weiterführung der bilateralen Beziehungen auf Augenhöhe sei. Noch weiter gingen die europafreundlichen Grünliberalen. «Es ist höchste Zeit, dass der Bundesrat dieses Votum als ein klares Mandat versteht, die Beziehung der Schweiz und der EU zu deblockieren», sagte Fraktionschefin Tiana Moser.
Auch die EU interpretierte das Ergebnis fröhlich. Aus ihrer Sicht ist es gar ein explizites Ja zur Personenfreizügigkeit. «Das Schweizer Votum bekräftigt die Bedeutung, die die Schweizer sowohl der Rolle von Frontex als auch den Vorteilen der Freizügigkeit und des Grenzmanagements beimessen», kommentierte Margaritis Schinas, Vize-Präsident der EU-Kommission. Er bezeichnete das Schengen-Abkommen als das «Kronjuwel» der EU. Und auch der EU-Botschafter in Bern, Petros Mavromichalis, freute sich. Mit diesem Ergebnis bekenne sich die Schweiz nicht nur zu Schengen, sondern auch zur «Zusammenarbeit mit der EU».