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Nach Autobahn-Nein: Grüne sehen sich als Vetomacht im Verkehr – und wollen die Mobilitätswende

Die Freude der Grünen nach dem Nein zum Autobahnausbau ist gross. Wie es dazu kam und was sie jetzt wollen.

Als Lisa Mazzone am 20. September 2023 das Wort ergreift, schwappt ihr eine Welle des Argwohns entgegen, man könnte auch sagen: der Arroganz. Man sei hier in der «Chambre de Réflexion», belehrt sie ein Liberaler, da müsse man eben «sorgfältig» sein. Der Ständerat verhandelt an jenem Tag den Ausbau der Schweizer Autobahnen, und die Lager sind klar: Nur die Grünen wehren sich gegen die Vorlage, und nicht einmal diese sind geschlossen. Die Baselbieterin Maya Graf enthält sich in der Schlussabstimmung wie auch sämtliche Mitglieder der SP.

Albert Rösti, relativ neu Verkehrsminister, tritt ausgesprochen heiter auf. Erst wenige Tage zuvor hat er den Ausbau der gesamten A1 auf sechs Spuren im Nationalrat bekräftigt – ein Geschäft, das ohne Widerrede durch den Bundesrat rutschte. Und wenige Wochen nach dieser Debatte wird Mazzone als Genfer Ständerätin abgewählt.

Man muss gar nicht erst noch die Abstimmungshistorie von Gotthardröhre bis Nationalstrassenfonds bemühen, um festzustellen: Nichts, aber wirklich gar nichts deutet im Herbst 2023 darauf hin, was ein Jahr später passieren wird.

Ein Freudensprung

Vielleicht deshalb glauben die Gegner des Autobahnausbaus bis zuletzt nicht so ganz an den Sieg. Mazzone etwa spricht Tage vor der Abstimmung von einem Widerspruch irgendwo zwischen Kopf und Bauch: Sie spüre, dass ein Nein drin liege, aber der Verstand wolle es noch nicht richtig begreifen.

Am Abstimmungssonntag selbst harren zur Mittagszeit die Autobahngegner einer ersten Trendmeldung im Restaurant Grosse Schanze. Auch wenn Umfrage-Guru Lukas Golder zunächst noch keinen Trend verkünden kann, verbreitet sich rasch Zuversicht unter den Anwesenden: Eigene Hochrechnungen lassen ein Nein immer wahrscheinlicher werden. Als schliesslich die ersten Kantonsresultate vorliegen, springt Lisa Mazzone vor Freude in die Luft und streckt dabei beide Arme hoch.

Am Ende ist der Sieg sogar deutlich: Fast 53 Prozent der Bevölkerung sprechen sich gegen die sechs geplanten Projekte zwischen Genf und St.Gallen aus. Nur elf Kantone sind im Ja, die gesamte Westschweiz und das Tessin lehnen die Vorlage ab.

«Das ist eine Sensation – und ein Zeichen dafür, dass Bundesrat und Parlament an der Bevölkerung vorbei politisieren. Die Leute haben keine Lust auf diesen No-Future-Bundesrat», redet sie sich ins Feuer. Für Mazzone steht fest: «Die Schweiz hat heute die Verkehrswende beschlossen, und wir Grünen haben die Vetomacht in Umweltfragen unter Beweis gestellt.»

Ein Sieg der Grünen …

Vetomacht, Verkehrswende: Wie wichtig für die Grünen diese Abstimmung werden wird, zeigte sich spätestens im Juni. Überraschend kam es an der Spitze des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS) zu einer Kampfwahl: In Delémont putschten die Grünen Ruedi Blumer (SP) von der Spitze, der zehn Jahre im Vorstand verbracht hatte. Plötzlich sassen die Berner Stadtparlamentarierin Jelena Filipovic und ihr Parteikollege David Raedler im Sattel des wichtigen Verbands.

Als Vizepräsident amtete zudem alsdann mit Thomas Ruckstuhl ebenfalls ein Grüner – er erbte den Sitz von SP-Nationalrat Bruno Storni. Hintergrund dieser Rochaden war offensichtlich die Abstimmung über den Autobahn-Ausbau, die der VCS mit seinem Referendum erzwungen hat. «Der VCS unter Blumer hat sein Potenzial nicht ausgeschöpft», sagte damals ein Geschäftsleitungsmitglied der Grünen.

Mit Raedler war der VCS in der Romandie präsenter vertreten. Filipovic, studierte Politologin, kennt sich zudem mit Mobilisierungen aus: Mehrere Jahre plante sie Streiks für das Klimakollektiv. Aber auch operativ verstärkte sich der VCS in diesem Bereich. Mehrere Campaigner stiessen zum Team.

«Auch wenn die Politik anders entschieden hat: Den Unmut der Bevölkerung über diesen Ausbau haben wir immer gespürt», sagt Filipovic. Gezielt gingen die Autobahngegner in die betroffenen Kantone und verbreiteten massgeschneiderte Argumente gegen den Ausbau: Den Verlust von Kulturland machten sie in Bern zum Thema, in Basel die Kunde, dass ein Rheintunnel nicht weniger Verkehr bringe.

Mit Letzterem nutzte der VCS ein Argument, das ihnen Rösti persönlich geliefert hatte. In der Debatte um einen Ausbau der A1 auf sechs Spuren kündigte der SVP-Bundesrat zusätzliche Erweiterungsprojekte an: «Das heisst, wir fahren mit der bestehenden Strategie des Ausbaus und insbesondere der Verminderung des Staus fort», sagte er. In Basel etwa schwand damit der Glauben, ein Rheintunnel würde den Verkehr beruhigen. Die SP, grösste Partei im Stadtkanton, schwenkte aufgrund «nicht erfolgter Zusagen» aus Bundesbern von einem Ja zu einem Nein um.

… und der Frauen

Was in sämtlichen Umfragen auch zum Ausdruck kam: Frauen stehen dem Ausbau der Autobahn kritischer gegenüber als Männer. Für Filipovic ist das ein zentraler Punkt dieser Abstimmung. «Frauen hätten viel weniger von diesem Ausbau profitiert als Männer, weil ihnen eine gesamthafte Vernetztheit der Mobilität wichtiger ist als ein schnelles Autobahnnetz», sagt Filipovic.

Was zumindest in Meinungsbefragungen regelmässig zum Ausdruck kommt, ist, dass Frauen ökologischen Fragen einen höheren Stellenwert einräumen als Männer. Aline Trede, Florence Brenzikofer, Marionna Schlatter (Grüne) oder Mattea Meyer (SP): Die Gesichter dieses Neins sind weiblich. Mit «Frauen sagen Nein»-Parolen machte das Referendumskomitee gezielt Jagd auf Autobahngegnerinnen.

Gefunden hat sie diese womöglich im Umfeld der Mitte-Partei. Mehr als ein Drittel der Mitte-Wählenden würden zu einem Nein tendieren, förderte die zweite Welle der Abstimmungsbefragung von Tamedia und «20 Minuten» zutage. Und in einer Parteianalyse von GFS Bern hievten Mitte-Mitglieder den Erhalt der Umwelt auf den vierten Platz der wichtigsten Themenpositionen – gleich nach dem Einsatz für den Mittelstand und lange vor Massenmigration oder Heiratsstrafe. Auffallend viele CVP-Hochburgen wie Luzern, das Wallis oder Uri sagten Nein zum Autobahnausbau, während beispielsweise SVP-Stammlande wie Schwyz, der Aargau oder der Thurgau Ja sagten.

Grünen wollen Momentum nutzen

Mazzone zumindest will das Nein zum Autobahnausbau in den kommenden Wochen und Monaten ausnutzen. «Das Resultat dieser Abstimmung muss sein, dass man über den Nationalstrassen- und Agglomerationsfonds nachdenkt», sagt sie. Für die rund fünf Milliarden, die dieser Schritt gekostet hätte, hat sie klare Pläne: «Es braucht jetzt einen Ausbau des öffentlichen Verkehrs in den Agglomerationen, damit die Leute besser von A nach B gelangen – und das möglichst bezahlbar.»

Auch in Autobahnen will Mazzone investieren: «Mit dem Geld lassen sich Lärmschutzmassnahmen auf dem bestehenden Netz realisieren», sagt Mazzone. Aber überhaupt: «Wir fordern, dass der NAF zu einem Kohäsionsfonds wird. Er soll auch dafür benutzt werden, um in den Bergen und auf dem Land Massnahmen gegen den Klimawandel zu treffen.»

Konkret gehe es etwa um Gegenden wie das Vallemaggia oder das Misox, deren Strassen im vergangenen Sommer von Unwettern weggespült wurden. Eine Studie der Zürcher Beratungsstelle Swiss Economics kam bereits vor fünf Jahren zum Schluss, dass der Ausbau von Schweizer Strassen und Schienen zur Wehr gegen Starkregen und Murgänge Milliarden verschlingen wird.

«Die Bevölkerung wünscht sich eine Politik, die sich mit der Zukunft beschäftigt – und nicht mit Autobahnen aus den 80er-Jahren», sagt Mazzone. «Dazu braucht es mehr Grüne im Bundeshaus – und am Ende auch im Bundesrat.» Hätte sich Mazzone so vor einem Jahr reden gehört, sie hätte wohl ihren Ohren kaum getraut.

Die Abstimmung zum Autobahnausbau in Grafiken