«Die Frauen in diesem Land haben verloren»: Bundesgericht bestätigt Rentenalter 65 – zum Ärger von SP und Grünen
Wie hat das Bundesgericht entschieden?
Das Bundesgericht lehnt die Abstimmungsbeschwerden gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre ab. Keiner der fünf Bundesrichterinnen und Bundesrichter sprach sich am Donnerstagmorgen für die Annahme der Beschwerden aus. Der Entschied fiel einstimmig.
Weshalb landete das Frauenrentenalter vor Bundesgericht?
Im Sommer schlug eine Rechenpanne hohe Wellen: Das Bundesamt für Sozialversicherungen informierte, dass die AHV wegen zwei fehlerhaften Formeln besser dasteht als gedacht. Die Ausgaben liegen 2033 zwar nicht um 4 Milliarden tiefer, wie anfänglich kommuniziert, sondern um 2,5 Milliarden Franken.
Trotzdem entspricht das einer Abweichung von 3,6 Prozent gegenüber den AHV-Finanzperspektiven, die bei vergangenen Abstimmungen als Grundlage dienten. So auch bei der umkämpften Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre, die im September 2022 mit einem Ja-Anteil von 50,5 Prozent knapp angenommen wurde. Gleichzeitig mit der Angleichung des Rentenalters zwischen den Geschlechtern hiess das Stimmvolk eine Erhöhung der Mehrwertsteuer gut, um Finanzlöcher bei der AHV zu stopfen. Die beiden Vorlagen waren miteinander verknüpft.
Nach Bekanntwerden der Rechenpanne reichten Vertreterinnen von Grüne und SP Beschwerden ein, um die Abstimmung über Frauenrentenalter 65 zu kippen. Das Volk sei aufgrund der falschen Ausgabenprognose für die AHV in die Irre geführt worden und habe nicht in Kenntnis aller Fakten abgestimmt, so ihre Argumentation. Unter den Beschwerdeführerinnen befinden sich auch Grünen-Parteipräsidentin Lisa Mazzone und SP-Nationalrätin Tamara Funiciello.
Wer entschied über die Beschwerden?
Das Bundesgericht fällte seinen Beschluss ususgemäss in einer Fünferbesetzung. Das Gremium besteht aus drei Männern und zwei Frauen: Lorenz Kneubühler, Tanja Petrik-Haltiner (beide SP), François Chaix (FDP), Stephan Haag (GLP) und Marie-Claire Pont Veuthey (Mitte).
Eigentlich würden in der ersten öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts, die für den Fall zuständig ist, aktuell nur Männer sitzen. Um zu garantieren, dass auch die weibliche Perspektive in die Urteilsfindung einfliesst, hat das Bundesgericht kurzerhand zwei der Richter durch zwei nebenamtliche Richterinnen ersetzt.
Wie argumentieren die Richterinnen und Richter?
Nach eingängigen Bemerkungen durch den Präsidenten der ersten öffentlich-rechtlichen Abteilung, Lorenz Kneubühler, erhielt zuerst Bundesrichter François Chaix (FDP) das Wort. Er präsentierte einen Urteilsvorschlag. Chaix vertrat die Ansicht, dass der Bundesrat im Rahmen der Abstimmung genügend transparent informiert habe. Aus seiner Kommunikation sei hervorgegangen, dass es sich bei den AHV-Finanzperspektiven um Prognosen handle – etwa durch den Gebrauch des Konjunktivs. Seine Konklusion: «Es liegt keine schwerwiegende, krasse Verletzung der objektiven Informationspflicht und des Transparenzgebots durch den Bundesrat vor.»
Hinzu komme, dass eine Annullierung der Abstimmung nicht konform mit dem Prinzip der Rechtssicherheit sei, so Chaix. Er verwies darauf, dass die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte bereits in Kraft getreten sei. Zudem hätten sich die von der Rentenaltererhöhung betroffenen Frauen und ihre Arbeitgeber bereits auf die Gesetzesänderung vom 1. Januar 2025 vorbereitet und ihre Vorsorgepläne angepasst.
Nach der Intervention von François Chaix präsentierte Bundesrichter Stephan Haag (GLP) einen Gegenantrag. Auch Haag betonte, dass es einen strengen Massstab anzuwenden gelte, wenn Abstimmungsresultate nachträglich aufgehoben werden sollen. Dies dürfe man nur dann machen, wenn gravierende Mängel die Abstimmung «massiv» beeinflusst haben. Seiner Ansicht nach war dies bei der Abstimmung über Frauenrentenalter 65 nicht der Fall. Eine «krasse Informationsfehlleistung» liege nicht vor. Vielmehr habe der Bund die fehlerhaften Formeln mangels besserem Wissen angewandt. Stephan Haag spricht sich dafür aus, auf die Beschwerden gar nicht erst einzutreten.
Marie-Claire Pont Veuthey (Mitte) sprach als dritte Bundesrichterin. Sie vertritt die Ansicht, dass der Bundesrat das Transparenzprinzip nicht genügend eingehalten habe. Er habe es verpasst, im Abstimmungsbüchlein darauf hinzuweisen, dass die Zahlen auf Prognosemodellen basieren, die mit Unsicherheiten behaftet sind. Marie-Claire Pont Veuthey verwies jedoch darauf, dass diese Mängel mit den Prinzipien der Rechtssicherheit abgewogen werden müsse. Zudem werde die AHV ins Defizit rutschen – daran ändere auch der Rechenfehler nichts. Die dritte Bundesrichterin spricht sich für die Ablehnung der Beschwerden aus.
Gleicher Ansicht ist Bundesrichterin Tanja Petrik-Haltiner (SP). Eine Verletzung des Transparenzprinzips sei zwar zu bejahen, doch erwiesen sich die Mängel nicht als derart gravierend, wie beispielsweise bei der CVP-Initiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe. «Die AHV ist und bleibt sanierungsbedürftig», sagte Tanja Petrik-Haltiner.
Lorenz Kneubühler (SP) als Vorsitzender des Gremiums teilte grösstenteils die Einschätzungen seiner Kolleginnen und Kollegen. Er kritisierte aber den Bundesrat: Dieser habe nicht in genügender Weise klargemacht, dass es sich bei den publizierten Zahlen um Schätzungen handelte. In einer Demokratie sei es wichtig, dass sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger auf die Daten der Behörden verlassen könnten.
Die Bundesrichterinnen und Bundesrichter waren also geeint in der Auffassung, dass die Beschwerde abgelehnt werden muss. Uneinigkeit gab es dagegen darüber, ob die Transparenzmängel eine Verletzung der politischen Rechte des Stimmvolks darstellen. Eine 3:2-Mehrheit sprach sich gegen diese Auffassung auf.
Wie reagieren SP und Grüne auf den Entscheid?
Nach der Urteilsverkündung versammelten sich die unterlegenen Beschwerdeführerinnen vor dem Bundesgericht. SP-Nationalrätin Tamara Funiciello ergriff als erste das Mikrofon: «Einmal mehr wurde ein Fehler auf unsere Kosten gemacht, auf die Kosten der Frauen. Heute haben die Frauen in diesem Land verloren. Heute sind wir wütend.» Da das Rentenalter von Mann und Frau nun gleich hoch liege, müsse der Rest der Gleichstellung jetzt folgen. Funiciello kündigte an, im Parlament verschiedene Vorstösse einzureichen: um die Care-Arbeit in der zweiten Säule anzuerkennen, um die Teilzeitarbeit besser zu versichern und um bezahlbare Kinderbetreuung zu gewährleisten.
Auch Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone zeigte sich enttäuscht über den «mangelnden Mut der Richter». Das Schicksal der Frauen, die einen Drittel weniger Rente erhielten als die Männer, werde nicht genügend ernst genommen, sagte die Genferin. Sie forderte eine Entschädigung für die Übergangsgeneration: also jene Frauen, die in den kommenden Jahren pensioniert werden und somit als erste von der Rentenaltererhöhung betroffen sind.
Wie geht es nun weiter?
Aufgrund des Entscheids des Bundesgerichts steht der Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre nichts mehr im Weg. Die neue Altersgrenze gilt ab 1. Januar 2025 und wird schrittweise eingeführt.
Sowieso schon in Kraft getreten ist die zweite Vorlage des AHV-Pakets, über welche die Schweiz im September 2022 abgestimmt hatte: die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte. Sie gilt unverändert. Gleichzeitig ist klar: Die AHV wird trotz dieser Massnahmen in die roten Zahlen rutschen. Laut Bundesamt für Sozialversicherungen dürfte dies ab 2026 mit der Einführung der 13. AHV-Rente der Fall sein. Gemäss den korrigierten Finanzperspektiven beträgt das AHV-Defizit im Jahr 2033 schätzungsweise 5 Milliarden Franken. Der Bundesrat arbeitet darum bereits an der nächsten Reform des Sozialwerks. Er muss dem Parlament bis am 31. Dezember 2026 eine Vorlage zur Stabilisierung der AHV für den Zeitraum von 2030 bis 2040 vorlegen.
Wie oft werden Abstimmungsresultate annulliert?
Praktisch nie. Das Bundesgericht gewichtet den Aspekt der Rechtssicherheit sehr hoch. So lehnten es die Richterinnen und Richter im Jahr 2011 ab, die Abstimmung zur Unternehmenssteuerreform II zu annullieren, obwohl die Steuerausfälle für Bund und Kantone markant höher ausfielen als im Abstimmungskampf erwähnt. Die Reform sei bereits in Kraft getreten und viele Firmen hätten sich daran angepasst, argumentierte das Bundesgericht damals.
Die einzige Ausnahme bildet die Abstimmung über die CVP-Initiative gegen die Heiratsstrafe, welche das Volk im Jahr 2016 knapp abgelehnt hatte. Es handelt sich um den ersten Volksentscheid, den das Bundesgericht nachträglich aufhob. Im Abstimmungsbüchlein sprach der Bund von 80’000 Betroffenen der Reform – statt deren 454’000. Das Recht des Stimmvolks auf freie Meinungsbildung überwog in diesem Fall das Gut der Rechtssicherheit, weil die Abstimmung aufgrund des Neins an der Urne keine Gesetzesänderungen zur Folge hatte.