Wenn Frauen anders abstimmen als Männer: Nicht nur bei der AHV-Reform gibt es grosse Unterschiede
Die Frauen sind von der AHV-Reform stärker betroffen als die Männer: Ihr Rentenalter würde auf 65 Jahre steigen. Trotzdem überrascht das deutliche Ergebnis der «20 Minuten»/Tamedia-Umfrage: Nur gerade 36 Prozent der Frauen wollen der Vorlage zustimmen, bei den Männern sind es hingegen 71 Prozent.
«Ein solcher Geschlechtergraben, wie ihn die Umfrage ausweist, wäre riesig», sagt der Politikwissenschafter Georg Lutz. «Das wäre deutlich höher als das, was wir bisher gesehen haben.» Lutz ist Professor an der Universität Lausanne und Direktor des Forschungszentrums FORS, das während Jahren Nachbefragungen zu den Abstimmungen durchgeführt hat. Auf Anfrage dieser Zeitung hat Lutz auf Basis der Nachbefragungen den Geschlechtergraben bei eidgenössischen Abstimmungen seit 1980 ausgewertet.
Der grösste Unterschied im Stimmverhalten von Frauen und Männern betrug demnach 18 Prozentpunkte: Bei der Initiative «zur Verminderung der Tabakprobleme» sagten 35 Prozent der Frauen Ja, aber nur 17 Prozent der Männer. Zum Vergleich: Bei der AHV-Reform wäre der Unterschied laut der Umfrage doppelt so gross.
«Frauen sind leicht progressiver»
Unterschiede zeigen sich beispielsweise bei Umweltthemen und geschlechterspezifischen Anliegen. «Frauen sind tendenziell leicht progressiver als Männer», sagt Lutz. Andere Faktoren seien aber entscheidender, relativiert er: «Werte und die Parteiaffinität haben auf das Stimmverhalten einen grösseren Einfluss als soziodemografische Faktoren wie Geschlecht oder Alter.»
Dass einfache Erklärmuster nicht taugen, zeigt sich beispielsweise bei der Trinkwasser-Initiative: Obwohl ein Umweltthema, stimmten Frauen und Männer praktisch gleich. Insgesamt war bei rund der Hälfte der 350 Vorlagen der Unterschied gering (kleiner als 5 Prozentpunkte). Bei etwa jeder siebten Vorlage betrug er mehr als 10 Prozentpunkte.
Dass bei der AHV-Reform die Ablehnung laut der Umfrage bei den Frauen so hoch ist, erklärt Lutz mit ihrer direkten Betroffenheit:
«Die Frauen sehen den Preis – die Erhöhung des Rentenalters – und gleichzeitig offenbar zu wenig Nutzen.»
Handeln die Frauen also egoistisch? Lutz wehrt sich gegen dieses Wort: «Es ist legitim, seine eigenen Interessen in den Abstimmungsentscheid einfliessen zu lassen.»
Gewinnen die Frauen – oder die Männer?
Gemäss der Umfrage würden die Frauen die Vorlage also ablehnen, die Männer hingegen annehmen. Solche Fälle sind selten. Die Politologin Cloé Jans vom Forschungsinstitut GFS Bern hat untersucht, wie oft es bei eidgenössischen Abstimmungen vorkommt, dass Frauen einer Vorlage mehrheitlich zustimmen, während die Männer sie ablehnen – oder umgekehrt. Ihre Bilanz: Von 1990 bis 2019 kam es bei insgesamt 278 Vorlagen nur zehn Mal vor, wie sie im Buch «50 Jahre Frauenstimmrecht» von Isabel Rohner und Irène Schäppi schreibt.
In den letzten zwei Jahren kamen mehrere Fälle dazu. Bei vier Vorlagen sagten die Frauen gemäss Nachwahlbefragungen mehrheitlich Nein, die Männer mehrheitlich Ja: beim Jagdgesetz, der Beschaffung von Kampfflugzeugen, dem Verhüllungsverbot und dem Freihandelsabkommen mit Indonesien. Bei der Konzernverantwortungsinitiative und dem CO2-Gesetz wiederum stimmten die Frauen mehrheitlich Ja, die Männer Nein.
Interessant dabei: Während sich in der Zeit von 1990 bis 2019 die Frauen in der Mehrheit der Fälle durchsetzten, standen zuletzt die Männer meist auf der Siegerseite.
Zur Umfrage von Tamedia äussert sich Politologin Cloé Jans nicht konkret. Generell aber sagt sie: «In den meisten Fällen sind sich Männer und Frauen einig, ob eine Vorlage angenommen oder abgelehnt werden soll.» Unterschiede gebe es vor allem bei gewissen Themen. «Frauen sagen tendenziell eher Ja zu Umweltschutz und mehr Leistungen in Sozialfragen.» Auf der anderen Seite seien sie weniger bereit, Rüstungsgeschäfte zu unterstützen.
AHV: Nicht immer ein Geschlechtergraben
Auch bei AHV-Abstimmungen gibt es nicht immer einen Geschlechtergraben – selbst wenn es um die Erhöhung des Frauenrentenalters geht. Bei der Abstimmung über die Altersvorsorge 2020 im Jahr 2017 lehnten Frauen die Vorlage in etwa gleich oft ab wie Männer, wie aus der Nachbefragung hervorgeht. Und auch 1995, bei der 10. AHV-Revision, die unter anderem die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 64 Jahre brachte, wurden keine Unterschiede festgestellt. In der Vox-Studie dazu heisst es: «Erstaunlicherweise unterschieden sich Frauen und Männer in ihrem Abstimmungsverhalten überhaupt nicht.»