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Trotz Energieknappheit: Dieses Stauwerk muss Wasser verschwenden

Der rasant schmelzende Aletschgletscher bringt einen Stausee zum Überlaufen. Das Kraftwerk läuft auf Hochtouren – doch das reicht nicht.

Das Bild ist beeindruckend. Aus allen sieben Öffnungen schiesst das türkise Gletscherwasser des Gebidem-Stausees in Richtung Tal. Die Massa, wie der Fluss heisst, ist an vielen Tagen des Jahres wenig mehr als ein Rinnsal. Seit Wochen herrscht dort aber eine Hochwassersituation wie nur selten.

Bis zu 120 Kubikmeter Wasser pro Sekunde donnerte zeitweise durch die Schlucht, was ungefähr der Aare bei Bern entspricht. Die Betreiber der Stauanlage Gebidem warnten vor rund zwei Wochen davor, die Schlucht zu betreten. Es bestehe Lebensgefahr.

Es scheint paradox, dass ein Stausee überquillt, obwohl die Schweiz derzeit versucht, ihre Wasserreserven für die Versorgungssicherheit im Winter zusammenzukratzen. Schliesslich hatte Umwelt- und Energieministerin Simonetta Sommaruga kurz vor den Sommerferien noch gewarnt, die Speicherkapazitäten könnten dieses Jahr nicht die üblichen Füllstände erreichen. Eine Hiobsbotschaft in einem Jahr, in dem die Schweizer Energieversorgung in Schieflage geriet.

«Der Sommer ist extrem»

Von solchen Sorgen ist man im Gebiet zwischen Belalp und Riederalp weit entfernt. Der Grund für den Überfluss liegt in den Bergen, genauer: im Aletschgletscher. Er ist der mächtigste seiner Art in den Alpen, über 22 Kilometer lang. Doch aktuell geht es ihm schlecht. Er schmilzt und dies rasant. «Dieser Sommer ist extrem», sagt Daniel Farinotti, Professor für Glaziologie an der ETH Zürich. Er schätzt, dass dieser Sommer unrühmlich in die Annalen eingehen könnte.

«Es ist durchaus möglich, dass die Schweizer Gletscher dieses Jahr noch stärker abschmelzen als im bisherigen Rekordjahr 2003.»

Damals verloren die Schweizer Gletscher gesamthaft 3,8 Prozent ihrer Masse. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es bis Ende der warmen Jahreszeit 2022 vier oder sogar mehr Prozent sein können. Seit 2001 gab es kein Jahr mehr, in der die Gletscher gewachsen sind, und auch damals waren es lediglich 0,2 Prozent Wachstumsvolumen. Die Folgen sind offensichtlich: Erst vor kurzem füllte das Wrack eines Kleinflugzeugs die Schlagzeilen, das der Aletschgletscher nach Jahrzehnten freigegeben hat.

Mitverantwortlich für die Ausnahmesituation in diesem Jahr ist ein ausserordentlich trockenes Winterhalbjahr. Dies hat dazu geführt, dass weniger Schnee auf den Gletschern zu liegen kam – doch dieser wirkt in der heissen Jahreszeit wie ein Schutz. «Schnee reflektiert die Sonne stärker als Eis», sagt Farinotti.

Ist der Gletscher also erst mal sein Schutzschild los, nimmt der Abschmelzprozess Fahrt auf. Kommt dazu, dass der aktuelle Sommer mehrere Hitzeperioden brachte. «Eine Kombination von diesen beiden Phänomenen bedeutet ein Worst-Case-Szenario für die hiesigen Gletscher», erklärt Farinotti.

Ein zweites Kraftwerk?

Das eingangs erwähnte Foto stammt vom Energiekonzern Alpiq, der es auf der Plattform Linkedin gepostet hat. Alpiq ist mitverantwortlich für den Betrieb des Gebidem-Staudamms. Als Bildunterschrift schrieb der Konzern: «Die Turbinen laufen seit Wochen mit maximaler Leistung und produzieren gerade im heutigen Kontext hochwillkommene Energie. Aber die noch grössere Menge Wasser müssen wir dieser Tage beim Überlauf abfliessen lassen, weil der Gletscher viel mehr Schmelzwasser abgibt, als wir nutzen und speichern können.»

Auf Anfrage sagt Sprecher Andreas Meier, dieses Jahr sei sehr viel Wasser turbiniert worden, «etwa 50 Prozent mehr als im langjährigen Mittel». In den letzten Tagen seien die Maschinen unter Volllast gelaufen, dabei wurden rund 55 Kubikmeter Wasser pro Sekunde zur Stromerzeugung verwendet.

Es könnten mehr sein. Das Projekt Oberaletsch will einen neuen See nutzen, der sich in den vergangenen Jahren gebildet hat. Mit dem Vorhaben würde das Wasser des Oberaletschgletschers über Stollen in eine knapp 700 Meter tiefer liegende neue Kraftwerkszentrale beim heutigen Gebidem-See zugeführt, um dort Turbinen anzutreiben.

Geschätzte Jahresproduktion: rund 100 Gigawattstunden, der Jahresbedarf von 25’000 Durchschnittsfamilien. «Mit dem Projekt Oberaletsch könnte man Überläufe wie in diesem Sommer reduzieren, einen Teil des Abflusses im Oberaletschsee speichern und rund 50 Gigawattstunden in den Winter transferieren», sagt Meier. Das Projekt befindet sich im Planungsstadium und liegt beim Kanton Wallis zur Aufnahme in den kantonalen Richtplan.