Sie sind hier: Home > Schweiz + Welt > Prigoschins bewaffneter Aufstand: Die Ereignisse – und wer profitiert, wer verliert

Prigoschins bewaffneter Aufstand: Die Ereignisse – und wer profitiert, wer verliert

Der Aufstand von Prigoschins Privatarmee ist vorbei. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wagner-Chef Prigoschin begehrte auf: Was ist passiert?

Am Freitag hatte der Wagner-Chef in einem seiner berüchtigten Telegram-Videos die offiziellen Begründungen des Kremls für den Krieg in der Ukraine verworfen.

Entgegen der russischen Propaganda-Behauptung sei vor Kriegsbeginn im Februar 2022 Russland überhaupt nicht durch die Ukraine gefährdet gewesen, sagte er in einem Video. Die angeblich «wahnsinnige Aggression» vonseiten Kiews und der Nato habe es so nie gegeben. Ausserdem hätten sich russische und prorussische Oligarchen Vorteile von dem Krieg erhofft, sagte Prigoschin.

Allein mit diesen Aussagen musste Prigoschin eine Reaktion provozieren. Es ist indirekt auch ein Angriff auf Präsident Wladimir Putin.

Stunden später behauptete Prigoschin, dass Verteidigungsminister Schoigu Wagner-Lager im Hinterland angegriffen habe. Das lasse er sich nicht bieten. Er sprach von einem «Marsch der Gerechtigkeit». Er wolle Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerrassimow «zur Rede stellen». Daraufhin machte er sich in die Südwestrussische Stadt Rostow auf. Rostow ist militärischer Mittelpunkt der russischen Armee in Südwestrussland. Von dort aus wird der Krieg gegen die Ukraine organisiert.

Prigoschin hat nach eigenen Angaben 25’000 Soldaten unter Waffen.

Dass Schoigu vor einigen Tagen verlangt hat, dass sich alle privaten militärischen Kräfte – Wagnersöldner sind nicht die einzige Privatarmee – dem Verteidigungsministerium unterstellen, könnte den Stein ins Rollen gebracht haben. Prigoschin zumindest hatte dies abgelehnt und seine Unabhängigkeit verteidigt.

Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow – beide werden von Prigoschin leidenschaftlich gehasst.
Keystone

Was war das Ziel von Prigoschin?

Das ist nicht so klar. Klar ist, der Machtkampf in den militärischen Lagern eskaliert war. Prigoschin hat sich nie zurückgehalten mit Kritik an der militärischen Führung. Dass er die meisten Generäle für Dummköpfe hält, daraus machte er nie einen Hehl. Besonders an Verteidigungsminister Schoigu arbeitet er sich ab. Aber auch Generalstabschef Gerassimow will er abgesetzt sehen. Prigoschin könnte den Oberbefehl über die russischen Truppen in der Ukraine wollen.

Wagner-Chef Prigoschin während seiner verbalen Attacke auf Telegram.
Keystone

Wollte Prigoschin den Krieg in der Ukraine beenden?

Nein. Der Ultranationalist und Militärunternehmer Prigoschin hat eigene Vorstellungen, wie der Krieg in der Ukraine zu verlaufen hat. Dass er diesen für richtig hält, das hat er nie bestritten. Auch nicht, dass ein Sieg über die Ukraine das Ende der Kampfhandlungen darstellen würde. Ein Angriff auf andere Länder scheint in einem solchen Falle möglich, ja wahrscheinlich. Wie Putin träumt er vom grossen Zarenreich. Prigoschin ist ein Krimineller und im Krieg ein Schlächter.

Wie hat der Kreml reagiert?

Der Kreml hat zunächst mit Prigoschin gebrochen. Das zeigten die Meldungen von offiziellen und kontrollierte Kanälen während der Nacht. Klar war auch, dass der Kreml den Aufstand Prigoschinds nicht dulden, dessen Anschuldigungen über die Kriegsrechtfertigung nicht hinnehmen würde. Das hatte auch Präsident Wladimir Putin am Samstagmorgen in einer TV-Ansprache zum Ausdruck gebracht.

Bereits am Freitagabend hatten russische Strafverfolgungsbehörden Ermittlungen gegen Prigoschin wegen versuchten bewaffneten Aufstands eingeleitet. Es wurde Haftbefehl erlassen. Das Verteidigungsministerium forderte Wagner-Söldner auf, in ihre Lager zurückzukehren und Prigoschin zu festzunehmen.

Russlands Verteidigungsministerium hat die Söldner der Privatarmee Wagner zur Beendigung ihres bewaffneten Aufstands aufgefordert. Sie seien von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin in ein «kriminelles Abenteuer» und die Teilnahme an einem bewaffneten Aufstand reingezogen worden.

Wie war und ist die Lage in Russland?

Der russische Söldnerchef Jewgeni Prigoschin hatte mit seiner Truppe Wagner während des Vormarsches wichtige militärische Objekte in Rostow am Don im Süden Russlands besetzt, darunter auch den Flugplatz. Davon gibt es Bilder. Es gibt auch Bilder aus der Stadt:

Wagner-Soldaten mit Panzer in der Innenstadt. Für die Bevölkerung offenbar eine Attraktion.
Keystone
Die Millionenstadt Rostow soll ganz unter Kontrolle der Wagner-Söldner sein.
Keystone

Der SPIEGEL beschrieb eine groteske Szene aus einem Prigoschin-nahen Telegramkanal vom Samstagmorgen:

Da sitzt der Wagner-Chef im Kommandozentrum der russischen Truppen in Rostow, bewacht von schwerbewaffneten eigenen Männern, an einem Tisch mit dem Stv. Verteidigungsminister, Junus-Bek Jewkurow, und dem Vizechef des Militärgeheimdienstes GRU, Wladimir Alexejew. Letztere unbewaffnet. Sind sie Geiseln? «Wir wollen den Generalstabschef und Schoigu», sagt Prigoschin in die Kamera und meint damit die Chefs der neben ihm sitzenden. Diese schauen verdattert lächeln gequält.

Das Bild, das Russlands Armee abgab, war verheerend und bleibt es darüber hinaus.

In Moskau und andernorts wurden die Sicherheitsvorkehrungen erhöht, Sicherheitskräfte wurden alarmiert und aufgefahren, Strassensperren eingeführt. Die Bürger wurden aufgerufen, zu Hause zu bleiben.

Prigoschin befand sich bereits auf dem Vormarsch nach Moskau, als er schliesslich seine Truppen zurückzog.

Prigoschins Truppen haben vor Moskau umgekehrt haben und auch ein Rückzug aus Rostow ist gemeldet. Sie wollen in ihre Basislager zurückkehren.

Wie hat Wladimir Putin reagiert?

Präsident Putin hatte sich am Samstagmorgen um 9 Uhr erstmals über TV an die Russinnen und Russen gewandt. Er sagte, dass die Situation um die Stadt Rostow sehr kompliziert sei. Er sprach von einem «kriminellen Akt», von «einem Dolchstoss in den Rücken von Russland und dem Volk», von «Verrat». Er liess aber keinen Zweifel daran, dass er der Aufstand niederschlagen werde und die Verantwortlichen bestraft werden würden. Putin warnte alle davor, sich den Aufständischen anzuschliessen.

Präsiden Putin bei der Ansprache im russischen TV.
Keystone

Putin erklärte am TV, dass alle Vorkehrungen getroffen worden seien, um die Krise zu bewältigen und Russland zu verteidigen.

Wie hat die die Ukraine reagiert?

Für die Ukraine könnten die Vorgänge in Russland ein «Geschenk» gewesen sein. Sind die Russen mit sich selbst beschäftigt, könnte das deren Kampfkraft an der Front schwächen. Das ukrainische Verteidigungsministerium tweetete am Freitagabend: «We are watching.» Frei übersetzt: «Wir verfolgen die Entwicklung in Russland.»

Nutzt die Ukraine ihre Chance? Das russische Verteidigungsministerium meldete in der Nacht auf Samstag, die Ukraine ziehe neue Einheiten bei Bachmut zusammen, um den Angriff zu verstärken. Bestätigt ist das nicht. Auch der General Surovikin und Generalleutnant Alekseev hatten Prigoschin in Videos aufgefordert, die Situation nicht zu verschlimmern und mit ihrem Verhalten nicht dem Feinde – also der Ukraine – in die Hände zu spielen.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski meldete sich am Samstagmittag auf Twitter zum Wagner-Aufstand: «Jeder, der den Weg des Bösen wählt, zerstört sich selbst.» Und weiter: «Die Schwäche von Russland ist offensichtlich», wenn sein Präsident sich in Moskau vor denen verbarrikadiert, die er selbst bewaffnet hat.

Lange habe Russland seine Propaganda genutzt, um die «Schwäche und Dummheit seiner Regierung zu verschleiern. Jetzt ist das Chaos so gross, dass es keine Lüge mehr verbergen kann.»

Wie hat der Westen reagiert?

Die Bundesregierung hat nach Auskunft des Auswärtigen Amts mit wichtigen internationalen Partnern über die Situation in Russland beraten. Zu den G7 gehören neben Deutschland auch Frankreich, Italien, Japan, Kanada, die USA und Grossbritannien.

US-Präsident Joe Biden hatte sich ausserdem mit Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem britischen Premierminister Rishi Sunak über die Situation in Russland ausgetauscht.

Von der Nato war keine Stellungnahme bekannt.

Und die Schweiz? Das Aussendepartment schrieb über Twitter:

Warum gibt Prigoschin auf?

Der Pressedienst des belarussischen Machthabers, Alexander Lukaschenko, teilte mit, dass dieser Prigoschin überzeugt habe, aufzugeben. «Prigoschin hat den Vorschlag von Belarus’ Präsident Alexander Lukaschenko zum Anhalten seiner Bewaffneten aus der Wagner-Truppe und weiteren Schritten zur Deeskalation angenommen», heisst es in einer Pressemitteilung des Präsidialamts der staatlichen Nachrichtenagentur Belta zufolge. Lukaschenko habe sich in Absprache mit Russlands Präsident Wladimir Putin als Vermittler eingeschaltet.

Was Prigoschin für seinen Rückzug erhält ist nicht offiziell. Die Rede geht, dass sein Erzfeind, Verteidigungsminister Schoigu, seinen Posten verliert und die Wagnersöldner Amnestie erhalten.

Wer profitiert, wer verliert

Prigoschin: Möglicherweise kann Prigoschin seinen Kopf retten und könnte sogar als Sieger aus dem Konflikt hervorgehen. Wartet er in Weissrussland auf eine nächste Gelegenheit? Viele Russlandexperten halten es für wahrscheinlich, dass er in den Sicherheitskräften Verbündete hat, zumindest Sympathisanten. Prigoschins Position könnte sogar gestärkt sein. Er konnte ungestraft seine Macht demonstrieren. Das Strafverfahren gegen ihn, wegen des bewaffneten Aufstands gegen die Militärführung wurde laut Kreml eingestellt.

Schoigu: Verteidigungsminister Schoigu hat keine gute Figur gemacht. Die so wichtige Stadt Rostow fiel ohne Verteidigung in die Wagnerhände. Wie ist das möglich? Möglich aber auch, dass Prigoschin Unterstützung aus Militär- oder Geheimdienstkreisen hatte.

Putin: Der russische Präsident dürfte als Verlierer gelten. Er hat Prigoschins Kopf gefordert – und nicht erhalten. Zudem musste er mit einem Aufständischen und Verräter einen Kompromiss eingehen. Ist Prigoschin zu mächtig geworden?

Putin hat ihn also nicht bezwungen. Das schwächt den Präsidenten. Jeder weiss nun, in Putins Russland ist ein Aufstand möglich. Der Machtkampf im Kreml dürfte deshalb nicht vorbei sein. Im Gegenteil. Putin hält nicht (mehr) die uneingeschränkte Macht in Russland in Händen.

Die Ukraine: Der Machtkampf in Russland dürfte weitergehen. Putin kämpft nicht mehr nur gegen die Ukraine sondern auch gegen innere Feinde in Russland selbst. Das dürfte der Ukraine in die Hände spielen und die Kampfkraft der russischen Truppen schwächen.

Mit Material der DPA

Verwandte Themen