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Ein Jahr nach dem Hamas-Überfall auf Israel: Warum es für Gaza nur finstere Aussichten gibt

Experten halten neue politische Ordnung und Wiederaufbau für unwahrscheinlich. Das sind die Gründe.

Mehr als 40’000 Tote, hunderttausende Vertriebene, mehr als 150’000 zerstörte Gebäude: Ein Jahr nach dem Überfall der Hamas auf Israel und dem darauf folgenden Kriegsausbruch liegt Gaza in Trümmern. Die Kämpfe zwischen Israel und der Hamas gehen weiter, doch einige Politiker denken über die Zeit nach dem Ende des Konflikts nach. Die Aussichten für eine stabile Nachkriegsordnung in Gaza, mit der Israel und die Palästinenser zufrieden sein könnten, sind düster.

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas skizzierte vor der UNO-Vollversammlung in New York einen Zwölf-Punkte-Plan für den «Tag Danach» in Gaza. Dazu gehörten ein vollständiger Abzug Israels, eine palästinensische Verwaltung für die mehr als zwei Millionen Bewohner des Gaza-Streifens und eine UNO-Friedenskonferenz.

Andere Vorschläge, die in den vergangenen Monaten präsentiert wurden, sehen die Entsendung einer internationalen Friedenstruppe und ein milliardenschweres Wiederaufbau-Programm für Gaza vor, an dem sich arabische und europäische Länder beteiligen könnten.

Realistisch sei keines dieser Lösungsszenarien, sagt Nathan Brown, Nahost-Experte an der George-Washington-Universität in der amerikanischen Hauptstadt. Er bezweifelt, dass es einen klaren «Tag Danach» geben wird. Diese Vorstellung stütze sich auf Wunschdenken und widerspreche den Aussagen der Kriegsparteien über ihre jeweiligen Ziele in dem Konflikt, sagt Brown zu CH Media.

Netanyahu will die Hamas vernichten

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu will die Hamas, die den Krieg am 7. Oktober vorigen Jahres mit ihrem Angriff auf Israel begann, vollständig vernichten. Mindestens bis dahin sollen die israelischen Truppen in Gaza bleiben.

Hamas-Chef Jahja Sinwar will das Gegenteil, nämlich das Überleben der Hamas und den Abzug der Israelis. Auch politisch ist der Graben tief. Die politischen Vertreter der Palästinenser und ein Grossteil der internationalen Gemeinschaft fordern die Gründung eines unabhängigen Palästinenser-Staates neben Israel, doch Netanyahu lehnt das ab.

Weil sich diese Positionen gegenseitig ausschliessen, sind bisher alle Versuche gescheitert, eine Waffenruhe für Gaza auszuhandeln. An die Errichtung einer stabilen Nachkriegsordnung sei erst recht nicht zu denken, sagt Brown. Dafür müssten Israel, Hamas, wichtige arabische Staaten, internationale Organisationen, die USA und Europa unter einen Hut gebracht werden – das sei «extrem unwahrscheinlich». Zudem wolle Israel den Gaza-Streifen nach einem Ende des Krieges weiter selbst kontrollieren.

Die Frage der Sicherheit ist zentral bei der Suche nach einer Nachkriegsordnung. Israel will verhindern, dass die Hamas eines Tages in Gaza wieder regieren und militärisch erstarken kann.

Zwar ist die Hamas nach Angaben des israelischen Hamas-Experten und früheren Geisel-Unterhändlers Gershon Baskin einverstanden, dass Gaza nach dem Krieg übergangsweise von einer Technokraten-Regierung ohne Verbindung zur Hamas regiert wird. Palästinenser-Präsident Abbas, dessen Fatah-Bewegung eine Rivalin der Hamas ist, würde nach internen Beratungen der Palästinenser einen Regierungschef für Gaza ernennen, sagt Baskin im Gespräch. In spätestens drei Jahren sollten dann freie Wahlen folgen.

Die Gefahr: Hamas könnte erneut nach der Macht greifen

Doch nach diesem Plan könnte es in drei Jahren wieder eine Hamas-Regierung geben. Die Terrorgruppe könnte sich dann mit neuen Waffen versorgen. Deshalb dürfte Israel einem solchen Plan nicht zustimmen. Auch die Stationierung einer arabischen Friedenstruppe in Gaza wäre kein Allheilmittel. Arabische Staaten zögerten damit, sich an etwaigen Zukunftslösungen zu beteiligen, sagte Julien Barnes-Dacey von der europäischen Denkfabrik ECFR unserer Zeitung.

Selbst wenn arabische Länder ihre Soldaten schicken sollten, wäre das keine Garantie für Sicherheit und Stabilität. Eine internationale Einheit würde von Palästinensern und Arabern womöglich als Hilfstruppe Israels in Gaza gesehen, schrieb der palästinensische Politiker Nasser el-Kidwa im arabischen Magazin «Al-Majalla», das in London erscheint.

Kidwa, ein Neffe des legendären PLO-Chefs Jasser Arafat, bewertet die Erfolgschancen einer Friedenstruppe als «bestenfalls zweifelhaft». Die Entsendung einer internationalen Truppe käme ohnehin nicht so bald in Frage, denn Netanjahus Regierung lehnt bis auf weiteres einen israelischen Truppenabzug aus Gaza ab.

Ohne umfassenden Konsens für den «Tag Danach» dürfte der Krieg in Gaza vorerst weitergehen. Nathan Brown von der George-Washington-Universität schliesst nicht aus, dass es hin und wieder «notdürftig zusammengestoppelte Absprachen» geben könnte, um die Gewalt einzudämmen. «Eine tragfähige Regierungsstruktur in Gaza» sei aber nicht in Sicht. Am ersten Jahrestag des Kriegsausbruchs gibt es keinen Hoffnungsschimmer, sagt auch Barnes-Dacey von der Denkfabrik ECFR: «Für die Palästinenser in Gaza sieht es sehr finster aus.»