Friedensnobelpreis: Wolodimir Selenski oder Greta Thunberg? Besonders ein Argument spricht für den Ukrainer
Geht es nach den Buchmachern, ist der Fall klar: Der haushohe Favorit auf den Friedensnobelpreis in diesem Jahr heisst Wolodimir Selenski. Wer darauf wettet, dass der Präsident der Ukraine an diesem Freitag in Oslo ausgezeichnet wird, erhält bei einschlägigen Anbietern teilweise nur 3 Franken für jeden eingesetzten Franken zurück. Selenskis Chancen werden mit bis zu 75 Prozent angegeben.
Auch die beiden Nächstplatzierten sind Personen, die sich unter Einsatz des eigenen Lebens gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen Vasallen stemmen. Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny, den Putin für viele Jahre in ein Arbeitslager stecken liess, teilt sich den zweiten Rang mit Swetlana Tichanowskaja.
Die Weissrussin, die vor drei Jahren mutmasslich die Wahlen in ihrem Heimatland gewann und von Diktator Alexander Lukaschenko illegal des Sieges beraubt wurde, lebt heute im Exil. Auch sie wurde in einem Willkür-Prozess zu einer langen Haftstrafe verurteilt. In Richtung des ukrainischen Volkes sagte sie Anfang Jahr im Gespräch mit CH Media: «Wir bekämpfen denselben Feind» – und meinte damit Putin.
In den Medien wäre die Hölle los
Kenner der Vergabepraxis des renommierten Preises setzen indes eher gegen das Anti-Putin-Trio. Gute Chancen hätten demnach Klimaaktivisten, allen voran die Schwedin Greta Thunberg. Verdiente Kämpferinnen und Kämpfer für Menschenrechte in Afghanistan, Iran oder im Jemen werden ebenfalls häufig genannt. Eine solche Preisträgerin oder Preisträger wäre freilich die am wenigsten kontroverse Wahl.
Ein Vertreter der russischen Opposition wurde im vergangenen Jahr ausgezeichnet. Das könnte die Chancen von Nawalny und Tichanowskaja schmälern.
Klar ist in jedem Fall: Sollten Selenski oder Thunberg den Friedensnobelpreis erhalten, wäre in den klassischen und vor allem in den sozialen Medien die Hölle los. Nur wenige öffentliche Personen polarisierten in den letzten Jahren so stark wie die junge Schwedin Thunberg. Und Selenski ist unter jenen, die Russlands barbarischen Angriff auf die Ukraine fälschlicherweise als Akt der Selbstverteidigung interpretieren, ohnehin die Hassfigur schlechthin.
Gegen Selenski spreche, meint der Direktor des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri Dan Smith, dass er und die Ukraine sich weiterhin im Krieg befinden. «Wenn es möglich wird, sein Land in eine friedliche Zukunft zu führen, dann wäre das eine solch enorme Leistung, dass er ein sehr verdienter Kandidat für den Preis wäre. Aber an diesem Punkt ist er noch nicht.»
Dies disqualifiziert Selenski jedoch nicht unbedingt – und zwar aus zwei Gründen.
1.: Die Auszeichnung für Barack Obama 2009 hat gezeigt, dass der Nobelpreis durchaus eine Art Vorschusslorbeere sein kann. Ein Ansporn für den Preisträger, seine Ideale umzusetzen und nicht auf halbem Weg einzuknicken. Der damalige US-Präsident war noch nicht einmal ein ganzes Jahr im Amt, als ihm die Ehrung zuteilwurde.
2.: Unzutreffend ist die offenbar weit verbreitete Meinung, jemand müsse sich für den Frieden im engeren Sinn (wie auch immer das zu definieren sei) einsetzen, um nobelpreiswürdig zu sein. Obama wurde für seine «aussergewöhnlichen Bemühungen um eine Stärkung der internationalen Diplomatie und um Zusammenarbeit zwischen den Völkern» ausgezeichnet. Die letztjährigen Preisträger kämpfen für Menschenrechte. Und Greta Thunbergs Einsatz fürs Klima ist freilich nicht näher am Friedensbegriff als Selenskis Abwehrkampf gegen Putins mordende Armee.
Das stärkste Argument für den Ukrainer aber ist folgendes: Selten gab es einen Krieg, bei dem die Rollen von Gut und Böse so eindeutig verteilt sind wie beim Überfall Russlands auf das Nachbarland.
Das oft gehörte Argument, Selenski müsse ja nur den besetzten Teil seines Landes den Russen überlassen, und schon kehre Frieden ein, ist geradezu zynisch. Denn in den besetzten Gebieten im Osten der Ukraine morden, foltern und vergewaltigen russische Soldaten. Alles Ukrainische wird Schritt für Schritt ausgelöscht, bis nichts mehr übrig ist.
Wäre Selenski so naiv und würde den aktuellen Status quo mit Putin in einem Friedensvertrag festhalten, wäre das Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer in den besetzten Gebieten indes nicht nur gross, sondern zudem umsonst. Denn für Putin wäre ein solcher Vertrag nicht mehr als die Einladung, nach einer kurzen Verschnaufpause nach dem Rest der Ukraine und letztlich auch den angrenzenden Nato-Ländern zu greifen.
Der daraus resultierende Krieg wäre um ein vielfaches blutiger als der aktuelle in der Ukraine. Wolodimir Selenski und seine Armee kämpfen damit für nichts geringeres als den Weltfrieden.