Grosse Konsternation in der Wahlnacht: Die Resultate von Kamala Harris sind ein Schock
Wer in der Nacht CNN geschaut hat, erlebte ein Déjà-vu. Die Karten glichen von Stunde zu Stunde mehr denjenigen von 2016, als Donald Trump gegen Hillary Clinton gewonnen hatte. Die Grafiken wurden rot und röter – die Farbe der Republikaner dominiert. Viele Amerikaner gehen nun ins Bett und erwarten, mit einem Präsidenten Trump aufzuwachen.
Vielleicht kommt es so. Aber sicher ist das nicht. Vielleicht gibt es ein weiteres Déjà-vu: Auch 2020 sah es, als die Amerikaner schlafen gingen, nach einem Sieg von Trump aus. Es kam anders und Joe Biden gewann – vier Tage nach der Wahl wurde sein Sieg bestätigt.
Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Szenario von 2016 wiederholt, wesentlich höher. Das politisch interessierte Amerika hängt in diesen Stunden an der «Needle» der «New York Times», einem ausgefeilten Prognoseinstrument von deren Datenteam. Und diese Prognosenadel dreht immer mehr nach rechts. 95 Prozent Siegeschancen gibt sie dem republikanischen Kandidaten (Stand 7 Uhr Schweizer Zeit).
Holt Trump erstmals landesweit am meisten Stimmen?
Ein eigentlicher Schock ist, dass gemäss dieser Prognose Donald Trump sogar das «Popular Vote» gewinnen könnte, also landesweit mehr Stimmen holt als Kamala Harris. Das gelang ihm nicht einmal 2016. Damals vereinigte Hillary Clinton landesweit 3 Millionen mehr Stimmen auf sich als Trump.
Ob es so kommt oder nicht – das steht noch in den Sternen. Schon jetzt lässt sich aber feststellen: Kamala Harris ist es nicht wie erwartet gelungen, die Euphorie, welche sie im Wahlkampf entfacht hatte, in eine breitflächige Mobilisierung umzumünzen. Gegenüber Joe Biden vor vier Jahren hat sie «underperformt», also weniger gut abgeschnitten.
Vor allem im östlichen Teil Amerikas gibt es, verglichen mit 2020, frappierende Stimmenverschiebungen zugunsten von Trump, wie diese Karte eindrücklich zeigt:
Wie konnte das passieren? Einiges deutet darauf hin, dass es ein Votum gegen Harris ist. Und damit auch ein Votum gegen die bisherige Regierung. Die Vizepräsidentin konnte sich nicht lösen von der Politik ihres Chefs Joe Biden, dessen Politik zutiefst unpopulär ist.
Interessant ist, dass Harris‘ Partei bei den Parlamentswahlen ganz passabel abschneidet. Es kann sein, dass die Demokraten im Repräsentantenhaus, der grossen Kammer, zulegen, im besten Fall sogar die Mehrheit holen. Das heisst: Die Partei ist in guter Form, aber ihre Präsidentschaftskandidatin «zieht» nicht wie gewünscht.
Trump mobilisierte Männer besser als Harris die Frauen
Eine mögliche Erklärung dafür findet sich, wenn man einzelne Wählergruppen anschaut. Der «Gender-Gap» war in diesem Wahlkampf grösser denn je. Männer wählten in den Umfragen Trump zu Harris mit etwa 60 zu 40 Prozent. Bei den Frauen verhielt es gerade umgekehrt, bei ihnen holte Harris teilweise über 60 Prozent.
Das war in den Umfragen. In der Wahl aber, so muss man annehmen, sind viele Frauen zu Hause geblieben. Trump gelang es offenbar besser, Männer zu mobilisieren. Genau darauf setzte er auch in seiner polarisierenden Schlussphase, wo er dort auftrat, wo es Männer abzuholen gibt, etwa beim reichweitenstärksten Podcaster der USA, Joe Rogan.
Eine andere Wählergruppe, die Latinos, stimmen normalerweise deutlich für die Demokraten, und Joe Biden räumte bei ihnen 2020 ab. Das gelingt Harris gemäss den aktuellen Auswertungen viel schlechter, auch und gerade in den Swing States. Dort – insbesondere in Pennsylvania – hoffte die Demokratin, von den rassistischen Ausfälligkeiten zu profitieren, die an Trumps Rally in New York in der Latino-Community für Empörung sorgten. Harris wies in ihren letzten Aufritten immer auf die Anti-Latino-Pöbeleien des Trump-Lagers hin. Augenscheinlich umsonst.
Schädlicher Fokus auf Trump?
Sollte Harris tatsächlich verlieren, werden bei der Manöverkritik der Demokraten zwei Fragen im Vordergrund stehen: War die Vizepräsidentin die falsche Kandidatin? Und: Hat ihre Kampagne einen Fehler gemacht, indem sie extrem auf Trump fokussierte, ihn als Faschisten bezeichnete und als Gefahr für die Demokratie? Hat das womöglich mehr das Trump-Lager mobilisiert, das von Joe Biden als Abfall (Garbage) bezeichnet wurde, als die eigenen Leute?
Nicht nur die Harris-Kampagne, auch die Leitmedien argumentierten in der Schlussphase weniger «pro Harris» als «contra Trump». Der Schlussaufruf der «New York Times» trug den Titel: «Vote To End The Trump Era» (siehe unten). Es sieht so aus, als hätte die Dämonisierung Trumps eher das Gegenteil bewirkt.