Kommt das Rentenalter 65 für Frauen nochmals vors Volk? Was für eine zweite Abstimmung spricht – und was dagegen
Nur gerade 30 Minuten nachdem das Bundesamt für Sozialversicherungen seinen Prognosefehler bei der AHV bekannt gegeben hatte, forderten die SP-Frauen per Communiqué: «Die Abstimmung über die Erhöhung des Frauenrentenalters (AHV 21) muss wiederholt werden!» Die «scheinbar dramatischen Finanzprognosen der AHV» seien einer der Hauptgründe gewesen, weshalb die Erhöhung des Frauenrentenalters im September 2022 mit 50,5 Prozent Ja eine hauchdünne Mehrheit fand. Die SP-Frauen zeigen sich überzeugt: Das Frauenrentenalter 65 wäre mit den korrekten, weniger schlechten Prognosen für die AHV abgelehnt worden.
Der Fall erinnert an die Abstimmung zur Heiratsstrafe. Im 2012 lehnte das Volk die Initiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» mit einem Nein-Anteil von 50,8 Prozent äusserst knapp ab. Später reichten Vertreter der CVP, heute Mitte, eine Abstimmungsbeschwerde ein und das Bundesgericht gab ihnen im April 2019 Recht: Weil der Bund über die Zahl der von der Heiratsstrafe betroffenen Paare krass falsche Zahlen publizierte, erklärten die höchsten Richter den Urnengang für ungültig.
Der Bund sprach zunächst von 80’000 Betroffenen, tatsächlich waren es 454’000. Es sei «möglich, dass die festgestellten Unregelmässigkeiten einen Einfluss auf das Abstimmungsergebnis hatten», heisst es dazu im Bundesgerichtsurteil.
Auf den ersten Blick lässt sich das auch über die Abstimmung zum Rentenalter 65 für Frauen sagen: Das Abstimmungsresultat war sogar noch knapper als bei der Heiratsstrafe. Und das Argument, die Reform sei nötig zur finanziellen Sicherung der AHV, beruhte – wie sich nun zeigt – auf Prognosen, die um bis zu vier Milliarden daneben liegen. Die Forderung der SP-Frauen, den Urnengang zu wiederholen, scheint insofern legitim.
Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch Unterschiede zwischen den Abstimmungen zur Heiratsstrafe und zum Frauenrentenalter 65. Der wichtigste: Die Abstimmung über die Initiative gegen die Heiratsstrafe endete mit einem Nein. Im Urteil des Bundesgerichts heisst es dazu: «Die Abstimmung führte zu keiner einzigen neuen Gesetzesnorm, die aufgehoben werden müsste.» Deshalb sei das Interesse «an einer auf vollständigen und exakten Informationen basierenden Willensbildung der Stimmbürgerschaft» höher zu gewichten als Aspekte der Rechtssicherheit.
Rentenalter 65 für Frauen wurde hingegen angenommen. Dies am gleichen Tag wie auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV, die mit 55 Prozent Ja-Simmen deutlich gutgeheissen wurde und auf den gleichen finanziellen Prognosen beruhte. Diese beiden, eng verknüpften Vorlagen vom September 2022 verbesserten die Lage der AHV und bildeten fortan die Grundlage der weiteren Diskussionen über die Altersvorsorge – darunter die 13. AHV-Rente und die Initiative für Rentenalter 67 der Jungfreisinnigen. Die vier Vorlagen sind eng verwoben.
Würde über das Frauenrentenalter 65 nochmals abgestimmt, müsste dies wohl auch für die Abstimmung zur Mehrwertsteuererhöhung gelten und möglicherweise sogar für die 13. AHV-Rente und Rentenalter 67. Zudem ist die Reform seit Anfang 2024 in Kraft, ab nächstem Jahr müssen die ersten Frauen länger arbeiten – gut möglich, dass viele von ihnen dies in ihren Vorsorgeplänen bereits berücksichtigt haben. Anders als in der Gerichtsverhandlung über die Heiratsstrafe dürfte im Fall der AHV-Vorlagen die Rechtssicherheit eine grössere Rolle spielen – und die Aussicht auf eine erfolgreiche Abstimmungsbeschwerde der SP-Frauen wohl schmälern.
Darauf lässt eine Passage im Urteil zur Heiratsstrafe schliessen: Das Bundesgericht verweist auf die abgelehnte Beschwerde über die Abstimmung zur Unternehmenssteuerreform II. In dieser Vorlage hatte der Bund Steuerausfälle in Milliardenhöhe schlicht nicht erwähnt. Das Bundesgericht rügte dies zwar scharf, trotzdem erklärte es die Abstimmung mit dem Hinweis auf die Rechtssicherheit für gültig: Das Gesetz sei bereits in Kraft getreten und viele Unternehmen hätten sich schon darauf ausgerichtet.
Den SP-Frauen – oder anderen Gruppierungen – bleiben ab Dienstag drei Tage Zeit, eine Abstimmungsbeschwerde einzureichen.