Nach der Kehrtwende am Nato-Gipfel: Erdogan löst Probleme, die er selbst geschaffen hat
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat mit dem Gezerre um den schwedischen Nato-Beitritt sein Hauptziel erreicht: Er hat den Westen gezwungen, die Türkei und ihre Interessen ernst zu nehmen. Allerdings macht sich Erdogan mit seiner konfrontativen Taktik in Europa und den USA unbeliebt. Das Misstrauen gegenüber der Türkei wächst weiter – und der nächste Streit kommt bestimmt.
Nach 20 Jahren im internationalen Geschäft weiss Erdogan, mit welchen Themen man den Westen aufschrecken kann. Zuerst verhinderte er mit seiner Veto-Drohung ein Jahr lang die Norderweiterung der Nato, um die USA zur Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen an Ankara zu bewegen. Dann packte er kurz vor dem Gipfeltreffen in Vilnius den Ruf nach Fortschritten im komatösen EU-Beitrittsprozess der Türkei drauf.
Erdogan weiss, dass die Türkei weiterhin keine Chance hat, in die EU aufgenommen zu werden. Er stellte die Forderung, um Verhandlungsmasse aufzubauen, und erreichte, dass sich EU-Ratspräsident Charles Michel nur wenige Stunden nach seinem Appell in Vilnius mit ihm zusammensetzte. Michel versprach, neuen Schwung ins türkisch-europäische Verhältnis zu bringen. Erdogan braucht diesen Schwung in den Beziehungen zum grössten Handelspartner der Türkei, um sein Land aus der Wirtschaftskrise zu bringen.
In den ebenfalls belasteten Beziehungen der Türkei zu den USA kann Erdogan nach seiner Zustimmung zum schwedischen Beitritt mit der Lieferung von Kampfjets des modernisierten F-16-Typs an die türkische Luftwaffe rechnen. Ankara bemüht sich seit fast zwei Jahren bei den USA um die Ausfuhrgenehmigung. Jetzt sagte die Regierung von Präsident Joe Biden zu, beim Kongress für grünes Licht zu dem Geschäft zu werben.
Als zusätzlichen Bonus erhielt Erdogan in Vilnius die Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch mit Biden, der den türkischen Staatschef sonst auf Distanz hält.
Türkische Presse feiert Erdogans Erfolg in Vilnius
Die türkische Regierungspresse feierte Erdogans Auftritt in Vilnius am Dienstag als grossen Erfolg, doch der Präsident weckt bei seinen Anhängern zuhause Erwartungen, die er nicht erfüllen kann. Die EU wird in absehbarer Zeit weder einer Modernisierung der Zollunion mit der Türkei noch Reiseerleichterungen für Türken in Europa zustimmen. Voraussetzung für diese Fortschritte wären politische Reformen in der Türkei – und die wird es unter Erdogans Ein-Mann-System nicht geben.
Immerhin lässt Erdogan mit seinem Ruf nach einer engeren Anbindung der Türkei an Europa erkennen, dass er sich wieder mehr am Westen orientieren will. Vor dem Nato-Gipfel empfing er den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski in Istanbul, entliess gegen russischen Protest ukrainische Offiziere aus der Inhaftierung in der Türkei und sprach sich für eine rasche Nato-Aufnahme der Ukraine aus.
Mit dieser Parteinahme für Kiew enttäuschte er den russischen Staatschef Wladimir Putin, der bisher sein enger Partner war.
Diese Signale gingen in Vilnius jedoch im Krach um den schwedischen Beitrittswunsch unter, den Erdogan losgetreten und ohne Not in die Länge gezogen hatte. Alles, was der türkische Präsident jetzt erreicht hat, hätte er schon vor Monaten haben können, ganz ohne Drama. Er zog es im Wahlkampf aber vor, den Streit in der Nato auf die Spitze zu treiben – um am Ende ein Problem zu lösen, das er selbst geschaffen hat. Erdogans ständiges Austesten der Grenzen schadet der Türkei im Bündnis.
Deshalb ist mit der Verständigung von Vilnius nicht alles in Butter zwischen der Türkei und dem Westen. Erdogan betonte nach der Einigung, jetzt komme es darauf an, dass die Zusagen an sein Land auch umgesetzt würden. Der türkische Staatschef nannte kein Datum für die Ratifizierung des schwedischen Nato-Aufnahmeantrages im Parlament von Ankara. Nach türkischen Medienberichten soll das Parlament nächste Woche zustimmen – wenn Erdogan sich bis dahin nicht wieder über Schweden aufregt.