Potenzial liegt brach: Viele wollen mehr arbeiten – doch ihnen werden Steine in den Weg gelegt
Da ist die 50-jährige Frau, die an eineinhalb Tagen in der Woche in einer Arztpraxis arbeitet. Sie würde gerne mehr arbeiten. Doch rein steuertechnisch macht das keinen Sinn. Sie lässt es auf Anraten ihres Mannes also bleiben. Oder da ist die junge Frau, alleinerziehende Mutter zweier Kinder. Auch sie würde gerne mehr als nur einen Tag arbeiten. Doch weil die Kitakosten teurer sind als das, was sie mit der zusätzlichen Arbeit verdienen würde, verzichtet sie auf ein höheres Pensum. Und da ist der ältere Herr, seit knapp zwei Jahren pensioniert. Er fühlt sich fit und möchte nicht nur einen, sondern zwei bis drei Tage die Woche arbeiten.
Sieben Prozent der Teilzeitbeschäftigten würden gerne mehr arbeiten
Sie alle wären potenzielle Arbeitskräfte. Und sie alle verzichten aus verschiedenen Gründen darauf, ihr Pensum zu erhöhen. Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) gibt es ‒ Stand 2020 ‒ in der Schweiz über 370’000 sogenannte Unterbeschäftigte, das sind mehr als sieben Prozent aller Teilzeitbeschäftigten.
Gemäss Definition zählen zur Gruppe der Unterbeschäftigten alle erwerbstätigen Personen, die «normalerweise eine kürzere Arbeitszeit als 90 Prozent der betriebsüblichen Arbeitszeit aufweisen und die mehr arbeiten möchten». Zudem erfüllen sie das Kriterium, wonach sie innerhalb von drei Monaten für eine Arbeit mit erhöhtem Pensum verfügbar wären.
Den Grossteil der Unterbeschäftigten machen mit über 70 Prozent die Frauen aus. Am stärksten betroffen sind Mütter zwischen 40 und 54 Jahren. Ein Blick zurück zeigt: Sowohl absolut als auch prozentual steigt die Zahl jener Teilzeitbeschäftigten, die gerne mehr arbeiten würden, seit Messbeginn 2004 stark an.
Mangelnde Kitaangebote, Fehlanreize bei den Steuern
Die hohe Unterbeschäftigung mutet angesichts des seit Jahren beklagten Fachkräftemangels und der vielen offenen Stellen merkwürdig an, lässt sich allerdings mit bestehenden Rahmenbedingungen zumindest ansatzweise erklären.
So betont die Berner GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy, dass viele «unfreiwillig unterbeschäftigt» seien. «Wenn Eltern mit kleinen Kindern ihr Pensum erhöhen, das zusätzliche Gehalt aber gleich wieder für die Kitakosten ausgeben muss, dann weist das System gravierende Mängel auf.» Bertschy findet es denn auch «grotesk, dass der Staat und die Politik nach wie vor das Familienmodell der Nachkriegszeit, statt Erwerbstätigkeit fördert». Dieses hindere gewillte Frauen daran, ihrer Berufung nachzugehen, und bevorzuge systematisch das besser verdienende, männliche Geschlecht.
Bei den Pensionären sind die Gründe ebenfalls finanzieller Natur: Die über 65-Jährigen sind laut Simon Wey, Chefökonom des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, oft nur in tiefen Arbeitspensen aktiv, dies unter anderem, «weil sie ab einem gewissen Freibetrag wieder Beiträge in die AHV, die IV und die EO einzahlen müssen».
Kitaplätze sollen günstiger werden
Doch: Wie gelingt es, das inländische Potenzial an Arbeitskräften auszuschöpfen? Was muss sich dafür ändern? GLP-Nationalrätin Bertschy nennt mehrere Ansatzpunkte, wie das «brachliegende Potenzial» besser genutzt werden könnte: Einerseits seien weitere Massnahmen nötig, um Familie und Arbeit besser unter einen Hut bringen zu können. Dazu zählt beispielsweise der Ausbau und die Vergünstigung von Krippenplätzen und Tagesschulen. Andererseits gelte es, «steuerliche Fehlanreize für doppelverdienende Ehepaare» zu beseitigen. Sie hofft, dass das Parlament in der nächsten Legislatur «endlich die Individualbesteuerung einführt».
Auch Simon Wey sieht die Politik in der Pflicht: «Fehlende oder ungenügende gesetzliche Rahmenbedingungen können nur auf parlamentarischem Weg verbessert werden.» Klar könnten auch Betriebe die Anstellungsbedingungen anpassen, damit eine Erhöhung des Pensums für Arbeitnehmende attraktiver werde. Doch an den grossen Hebeln sitze das Parlament.
Dieses ist nicht ganz untätig: Aktuell befindet sich ein Gesetzesentwurf in der Vernehmlassung, wonach sich der Bund künftig mit mehr als 500 Millionen Franken an den Kosten der Eltern beteiligen soll. Zudem sammelt die SP seit dem Frühling Unterschriften für ihre Kita-Initiative. In dieser fordern die Sozialdemokraten, dass Eltern höchstens 10 Prozent ihres Einkommens für die Kita-Plätze ihrer Kinder ausgeben müssen. Zudem sollen die Arbeitsbedingungen für Kita-Angestellte verbessert werden.