Italien verweigert Übernahme seit mehr als einem Jahr – die Schweiz bleibt auf Hunderten Asylgesuchen sitzen
Vor etwas mehr als einem Jahr, es war an Weihnachten 2022, deckten Recherchen den Übernahmestopp auf: Italien nehme vorübergehend keine Dublin-Flüchtlinge mehr zurück, berichtete die «NZZ am Sonntag» damals. Es geht dabei um Asylsuchende, für die Italien gemäss Dublin-Abkommen zuständig ist, weil sie dort zuerst registriert wurden. Die Schweiz kann diese Personen seit Dezember 2022 nicht mehr an Italien übergeben – bis heute.
Das hat Auswirkungen: Können die Personen nicht innerhalb der vorgegebenen Frist nach Italien überstellt werden, wird automatisch die Schweiz für das Asylgesuch zuständig. Seit Beginn des Überstellungsstopps ist das in 531 Fällen geschehen, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage erklärt. Anders gesagt: Die Schweiz muss 531 Asylgesuche prüfen von Personen, die eigentlich nach Italien gebracht werden sollten.
Das hat auch Folgen für die Kantone. «Dass die Überstellungen nach Italien nicht durchgeführt werden können, hat natürlich Auswirkungen auf die Unterbringungskapazitäten», sagt der Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren, Florian Düblin.
Italien begründete die Sistierung mit dem hohen Migrationsdruck und fehlenden Kapazitäten. Laut der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR kamen 2023 fast 158’000 Flüchtlinge und Migranten übers Mittelmeer in Italien an – fünfzig Prozent mehr als 2022. Betroffen vom Überstellungs-Stopp ist nicht nur die Schweiz, sondern alle Dublin-Staaten. Die Schweiz hat daher auch gemeinsam mit anderen Dublin-Staaten wie etwa Deutschland und Frankreich bei der EU-Kommission interveniert.
Doch Italien lenkte bisher nicht ein. Das dürfte sich so rasch nicht ändern, glaubt das SEM. Vor der Verabschiedung des neuen EU-Asylpakts sei nicht mit einer Wiederaufnahme der Dublin-Überstellungen zu rechnen, erklärt eine Sprecherin. Immerhin: Der Asylpakt soll noch vor den Europawahlen im Juni 2024 verabschiedet werden. Er sieht einen Solidaritätsmechanismus vor, der Ankunftsländer wie Italien entlasten soll.
20 Millionen Franken für Italien
Nach Ansicht des Parlaments sollte der Bund indes mehr Druck machen. In der Wintersession hat der Nationalrat eine Motion des Luzerner FDP-Ständerats Damian Müller überwiesen, die fordert, dass die Schweiz deswegen in Brüssel formell interveniert. Der Bundesrat lehnte den Vorstoss mit dem Argument ab, das Anliegen werde bereits umgesetzt.
Seit der Ankündigung der Suspendierung führten die Schweizer Behörden laut SEM zahlreiche Gespräche auf bilateraler und europäischer Ebene, um Italien dazu zu bewegen, seinen Verpflichtungen im Rahmen des Dublin-Systems nachzukommen. Auch andere Länder intervenierten. Deutschland setzte zudem als Gegenmassnahme die freiwillige Übernahme von Flüchtlingen aus Italien aus.
Die Schweiz wiederum stellte Italien letztes Jahr 20 Millionen Franken zur Unterstützung in Aussicht; das Geld stammt aus dem Rahmenkredit für Migration im zweiten EU-Kohäsionsbeitrag. Die Auszahlung an die Dublin-Überstellungen zu knüpfen, ist für den Bund kein Thema. Laut SEM liegt die Stärkung der Migrationsstrukturen in Italien «im direkten Interesse der Schweiz». Denn ist die Situation für Flüchtlinge in Italien prekär, reisen sie eher weiter. Zudem sehen die Prinzipien des zweiten Schweizer Kohäsionsbeitrags keine Konditionalität vor, wie das SEM festhält.