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«Das Schmuddelige geht verloren»: Fotograf Benjamin Manser dokumentiert das Leben auf Schweizer Autobahnraststätten

Sextreffs für Homosexuelle oder geheime Treffpunkte für Rauschgifthändler – das war einmal. Eine Fotoreportage zeigt interessante Einblicke in das Leben auf der Schweizer Autobahn. Derzeit ist sie im Bellevue in Basel zu sehen.

Selten wollen wir wirklich dahin. Noch seltener sind Autobahnraststätten Enddestinationen von Autofahrten und Reisen. Anders für den St.Galler Fotografen Benjamin Manser: Seit einigen Jahren fährt er ganz bewusst zu Autobahnraststätten und fotografiert diese Orte, an denen sonst kaum jemand hin muss – ausser wenn er oder sie eben mal dringend muss.

«Lichter, die aus dem Dunkeln sich verirren. Wohin auch immer wir fahren, jeder Meter bringt uns weiter weg und führt uns näher ran an all die Dinge, die wir nie begreifen werden»: Was der deutsche Liedermacher Gisbert von Knyphausen in seinem melancholischen Lied «Es ist still auf dem Rastplatz Krachgarten» besingt, ist sinnbildlich für Orte, die man nur im Vorbeifahren wahrnimmt: Raststätten an der Autobahn. «Es sind Orte, wo Menschen ihre Notdurft verrichten und nur anhalten, wenn sie wirklich müssen», sagt der St.Galler Fotograf Benjamin Manser.

Manser ist Fotograf und in der Ostschweiz verwurzelt. Hier kenne er jeden Stein, sagt er mit einem schelmischen Grinsen. «Seit meiner Jugend ist die Kamera meine ständige Begleiterin.» 2011 schloss er den Fotolehrgang am Medienausbildungszentrum in Luzern (MAZ) ab. Seither fotografiert er für das St.Galler Tagblatt und realisiert eigene Projekte. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen Porträts und Reportagen.

Manser ist oft beruflich mit dem Auto auf der Autobahn unterwegs und verbringt des öfteren tote Zeit an Raststätten. Da kam ihm die Idee, die Szenen fotografisch festzuhalten. «Raststätten sind eigentlich Unorte. Man will da gar nicht sein und ist dann trotzdem da», erzählt der 35-Jährige. Die Orte seien an und für sich ja nicht besonders schön.

Fotograf Benjamin Manser
Bild: Urs Bucher

Dennoch hätten Autobahnraststätten einen ganz besonderen Charme, sagt Manser: «In meiner Kindheit hielten wir immer an Autobahnraststätten, wenn wir mit dem Auto auf dem Weg nach Frankreich waren. Das war stets aufregend und irgendwie auch gruselig.» Autobahnraststätten haben bis heute etwas Anrüchiges: Mehrere Raststätten sind im Volksglauben noch immer bekannte Sextreffs für Homosexuelle, oder man findet dort vermeintlich Spuren von Rauschgiftkonsum.

Der Fotograf beobachtet im Rheintal eine Szene und steigt aus dem Auto. Er nimmt seine analoge Rolleiflex-Kamera zur Hand, stellt die Belichtungszeit und die Blende ein, fokussiert, drückt ab und sagt:

«Es sind kurze Momente, die ich festhalte und dokumentiere. Puzzleteile der Welt.»

Neben Fotos sammelt Manser auch Rezensionen auf Google Maps zu den Raststätten. Darin schreiben Userinnen und User teils über interessante Eindrücke und Erlebtes. Etwa wie schmutzig es auf den Raststätten ist, oder wo viel Müll herumliegt.

Kleine Abenteuer im Alltag

Doch seien Raststätten auch Orte der schönen Schlichtheit, sagt Manser und lacht:

«Lauwarmer Kaffee, fade Schinkenbrötchen und eine funktionale Architektur haben doch etwas von einem Abenteuer, nicht?»

Ebendieser Charme sei in Gefahr: «Das Schmuddelige geht verloren, weil immer mehr Raststätten aufgewertet und damit steril werden. Die günstigen Schinkengipfeli werden von hippen, teuren Mahlzeiten verdrängt.»

Benjamin Manser porträtiert auch Menschen, die auf Raststätten arbeiten.
Bild: Benjamin Manser

So machte sich Fotograf Manser daran, Szenen auf Autobahnraststätten fotografisch zu dokumentieren. Er nutzte jede Gelegenheit, um Bilder und Eindrücke zu sammeln. Mit einer alten analogen Rolleiflex-Fotokamera lichtete Manser Menschen an Raststätten ab und zeigt so eindrücklich die Szenen des Lebens vor Ort.

Es sei aber nicht immer leicht gewesen, die Menschen zu fotografieren, sagt er: «Ich hatte grosse Hemmungen, an Autobahnraststätten Frauen für ein Foto anzusprechen. Schliesslich aber waren die Menschen sehr offen und liessen sich ablichten. Die Menschen verbindet die Tatsache, dass man an diesem Ort ist, wo man sonst nicht hinkommt.»

Nun stellt Benjamin Manser seine Bilder in Basel aus. Im Rahmen einer grossen Fotoausstellung, die den Klimawandel als Oberthema hat. Zu den Google-Rezensionen, die er ebenfalls sammelt, sagt der Fotograf:

«Da finden sich so viele lustige Momentaufnahmen, welche noch einmal einen ganz anderen Eindruck auf diese Orte geben.»

Beendet sei das Projekt noch lange nicht: «Ich habe meine Rolleiflex immer im Auto und werde hoffentlich noch viele Szenen dokumentieren können.»

Das sagt der HSG-Soziologie-Professor

Dass Autobahnraststätten einen ganz besonderen Charme haben und einen Wandel erleben, erkennt auch Professor Felix Keller. Er ist Soziologe an der Universität St.Gallen und forscht unter anderem in Themenfeldern wie der Anonymität der Gesellschaft: «Autobahnraststätten sind für unmittelbare physische Bedürfnisse konzipiert: Schnelle Nahrungsaufnahme, Toilettengang, verzweifelte Suche nach Damenbinden, Zigaretten und verschämte Rauchpausen», schreibt der Wissenschafter in einem Essay dazu.

Keller ergänzt: «Oder anders ausgedrückt: Die Autobahnraststätte hilft dem Menschen, den die Evolution nicht für die Autobahn vorgesehen hatte, physisch und mental Ordnung zu halten. Und sie hilft der Schweiz, die für das Funktionieren notwendige Mobilität aufrechtzuerhalten.»

Raststätten sind Denkmäler der modernen Schweiz

Die Orte seien darum wegen ihrer Funktionalität für die Reisenden enorm wichtig. Der Soziologieprofessor vergleicht die Raststätten treffend:

«Reisende ersehnen sich die Raststätten, als wären sie eine Oase für eine dürstende Karawane.»

Felix Keller, Soziologieprofessor an der Universität St.Gallen.
Bild: HSG

Die Orte haben in der Gesellschaft einen so wichtigen Stellenwert, dass gewisse Raststätten im Volksmund gar unverwechselbare Spitznamen bekommen hätten. «Jede und jeder in der Schweiz kennt die Raststätte Würenlos unter ihrem Namen ‹Fressbalken›.» Die Raststätte Egerkingen sei gar wegen ihrer Erreichbarkeit zum Kennzeichen des Egerkinger Komitees geworden und diene als Versammlungsort der Benzinschweiz, schreibt Keller salopp.

In seinem kurzen Aufsatz über Autobahnraststätten erläutert Keller die Faszination für diese «Nicht-Orte». Keller schreibt, dass an Autobahnraststätten eine Anonymität wie in einer Grossstadt herrsche, die man sonst in der ländlichen Schweiz nicht finde. «Es treffen namenlose Menschen aufeinander, ohne wiederum von anderen gross beachtet zu werden. Dies ermöglicht ein Gefühl des Unbeachtetseins. Ich bin ja schnell wieder weg, und niemand hat mich gekannt. Es ist ein Ort, wo Gesichter auftauchen und wieder verschwinden, die sich niemals mehr begegnen.» Das sei in dieser Form einzigartig und auch in der Architektur wiedererkennbar. Für Keller ist klar: «Wenn auch gesichtslose Orte in den umfassenden Zirkulationsräumen, üben die Autobahnraststätten, womöglich aufgrund der beschriebenen Faktoren, eine paradoxe Faszination aus. Denn sie sind Denkmäler der modernen Schweiz.»