Gamesucht-Expertin: «Wie viel sinnlose Freizeitbeschäftigung ist akzeptabel?»
Im Herbst finden im Kanton regelmässig Aktionstage zur psychischen Gesundheit statt. An der Kantonsschule Baden wurde im Rahmen dieser Tage erstmals der Game-Event «Let’s play» für Eltern organisiert. Sie konnten in die virtuelle Welt der Spiele eintauchen und erfahren, wie sich das Gaming ihrer Kinder auf ihre Rolle als Mutter und Vater auswirkt. Über 70 Anmeldungen und zahlreiche positive Rückmeldungen haben Initiatorin und Suchtberaterin Deborah Stutz vom Beratungszentrum BZBplus Baden darin bestärkt, den Anlass im nächsten Jahr erneut durchzuführen.
Frau Stutz, was war der Auslöser für diesen Game-Event?
Deborah Stutz: Die meisten Eltern, die wegen des Gamens ihrer Kinder zu uns kommen, verstehen nicht, warum sie das so gerne tun, das heisst am Computer, an einer Konsole oder auch am Smartphone Spiele spielen. Sie kennen die Spiele oft nicht einmal und wenn doch, spüre ich in den Gesprächen oft eine grosse Verurteilung und wenig Einfühlungsvermögen.
Am Anlass durften die Eltern erleben, welch herausfordernde und spannende Spiele die stetig wachsende Spielindustrie entwickelt. Sie tauschten sich auch mit erfahrenen Jugendlichen über deren Motivation aus.
Ich habe eine ähnliche Idee in einer nationalen Austauschgruppe aufgeschnappt, die mir auf Anhieb gefiel. Um unsere gamenden Kinder besser zu verstehen, ist es wichtig, ihre Beweggründe zu erforschen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Dies ist viel zielführender, als das Kind zu verurteilen. Meist sind Kinder einfach im Widerstand, weil sie sich in die Enge getrieben fühlen.
Die Eltern, die zu Ihnen kommen, spielen also selbst eher nicht?
Normalerweise nicht. Eltern mit Spielerfahrung zeigen mehr Verständnis. Es sind Unverständnis und Verurteilung, die zu Konflikten in der Familie führen. Das Elternteil, das spielt oder gespielt hat, ist oft weniger kritisch.
Wann sollten sich die Eltern denn Sorgen machen?
Wenn Kontrollverlust, Schlafmangel, Vernachlässigung von Hobbys und Beziehungen, schlechte schulische Leistungen oder Konflikte auftreten. Jugendliche experimentieren oft, sie probieren Bewältigungsstrategien aus. Jedes Konsumverhalten ist häufig eine Strategie, um mit Stress umzugehen und Emotionen zu regulieren. Solange auch andere Strategien zum Einsatz kommen, kann es sich nur um eine vorübergehende Phase handeln. In der Regel hört das viele Gamen auf, wenn die Verpflichtungen zunehmen. Die meisten, die zu uns kommen, sind Eltern von Jugendlichen zwischen 12 und 14 Jahren.
Kommen sie aus berechtigten Gründen?
Bei Jugendlichen sprechen wir meist noch nicht von Sucht, sondern von problematischem Konsum. Dass wegen des Gamens obgenannte Symptome auftauchen und das Kind nicht mehr am Familienleben teilnimmt, begegnet uns in der Beratung eher selten. Die Eltern der jüngeren Kinder, die uns aufsuchen, sind in der Regel sehr engagiert, aber alarmiert, weil sich etwas verändert. Oft ist es eine ganz normale Entwicklung in der Pubertät, eine Abnabelung von den Eltern.
Das Beratungszentrum BZBplus bietet Kinder- und Jugendberatung für die Region Baden sowie Suchtberatung für den Kanton Aargau an. Alle Angebote sind kostenlos. Die 38-jährige Deborah Stutz gehört seit 2019 zum 18-köpfigen Team des BZB. Sie plant für das neue Jahr in Baden eine Elterngesprächsgruppe, in der sich Eltern zum Medienkonsum ihrer Kinder austauschen und Fachinputs zum Thema Medienerziehung erhalten können.
Wann werden Sie hellhörig?
Besonders Jugendliche mit ADHS oder Autismus erfüllen im Gaming Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Zugehörigkeit, Akzeptanz und Selbstwirksamkeit, die sie im realen Leben nicht befriedigen können. In den Spielen erleben sie Welten mit klaren Regeln, die einfacher zu bewältigen sind und ihnen Sicherheit geben. Die Spielwelt ist wie ein geschützter Rahmen, in dem sie wissen, wie sie sich verhalten müssen und wie sie auch durch Leistung erfolgreich sein können, wenn sie es zum Beispiel in der Schule nicht sind. In solchen Fällen ist es wahrscheinlicher, dass eine Sucht entsteht.
Sind es hauptsächlich Eltern von Jungs, die zu Ihnen kommen?
Alle spielen, unabhängig von Alter und Bildung. Aber in der Beratung habe ich häufiger mit männlichen Jugendlichen zu tun. Das liegt in meinen Augen auch an der Gaming-Industrie, die von Männern geprägt ist. Sie ist im Rückstand, was Spiele angeht, die Mädchen ansprechen, holt aber auch da langsam auf.
Angenommen, der 13-jährige Jonas «gamt» oft mit Freunden bei jemandem zu Hause. Seine Eltern mögen das nicht. Was raten Sie?
Wenn alle anderen Kollegen am Samstagabend gamen und ich es verbiete, muss ich einfach akzeptieren, dass mein Kind unzufrieden ist, sich ausgeschlossen fühlt und Angst hat, nicht sozial integriert zu sein. Dass die Freizeitgestaltung heutzutage anders aussieht als früher, ist eine Tatsache. Es kommt immer aufs Mass an.
Ist es wirklich wichtig, ob sie zu Hause nun ein Gesellschaftsspiel spielen oder es am Computer tun? Solange sie noch miteinander kommunizieren und andere Aktivitäten unternehmen, warum nicht? Eltern sollten das Kind und dessen Bedürfnisse im Blick behalten und versuchen, mit ihm die Beziehung aufrechtzuerhalten. Und sie können sich selbst die Frage stellen, wie viel sinnlose Freizeitbeschäftigung akzeptabel ist. Erlaube ich mir nicht auch selbst solche Zeiten? Mache ich wirklich sinnvolle Dinge, wenn ich meine Aufgaben erledigt habe?
Das heisst, die Eltern, die zu Ihnen kommen, müssen sich auch mit sich selbst auseinandersetzen?
Generell wollen sie zuerst einfach, dass das Problem ihres Kindes schnell gelöst wird, ohne dass sie selbst viel dazu beitragen müssen. Es ist leider ein verbreitetes Missverständnis, dass psychische Probleme einfach mit einer Pille behandelt werden können. Therapie ist keine schnelle Lösung. Es braucht auch von den Eltern den Willen, etwas zu ändern. Ich arbeite systemisch. Es ist wichtig für mich zu wissen, wie sie auf das Verhalten ihrer Kinder reagieren. Sie haben zum Beispiel oft ähnliche Gewohnheiten, wenn es um die Nutzung von Handys geht.
Auch sie verbringen viel Zeit damit, vielleicht nicht unbedingt mit Games, aber zum Beispiel in den sozialen Medien. In Sitzungen führen wir oft spannende Diskussionen darüber, wie viel Zeit Mama und Papa tatsächlich am Handy verbringen. Die Meinungen dazu gehen stark auseinander.
Wenn Familien zu Ihnen kommen, wird also zumeist erwartet, dass sich nur das Kind ändert?
Ja. Aber wir arbeiten zum Schluss eigentlich vor allem mit den Personen in der Familie, die Veränderungsbereitschaft zeigen. Die meisten Kinder, die zu uns kommen, tun das nicht aus eigenem Antrieb, auch, weil sie nicht glauben, Hilfe zu benötigen. Wenn aber nur eine einzige Person im Familiensystem bereit ist, etwas in ihrem Verhalten zu ändern, hat das Auswirkungen auf alle. Zum Beispiel kann es sein, dass Kinder wieder aus den Zimmern kommen, weil sie merken, dass die Eltern mehrere Tage lang gar nicht wegen des Gamens genervt haben (lacht). Solche Dinge haben wir schon ganz oft erlebt.
Und darum haben Sie Ihren Beruf gewählt?
Wenn sich in Familien etwas verändert, ist das grossartig. Am Anfang werde ich oft mit dem innerfamiliären Gefühl der Überforderung konfrontiert und ich frage mich, ob die Situation wirklich so ausweglos ist wie beschrieben. Und dann finden wir gemeinsam Wege, sehen, wie sich die Verstrickung löst und am Ende entwickeln sie wieder eigene Lösungen. Das ist eine bereichernde Erfahrung für alle Beteiligten.
Lassen Sie sich von Ihrem Kind die Welt der Games zeigen und reden Sie mit ihm über die Spiele. Begleiten Sie vor allem jüngere Kinder und achten Sie auf Altersangaben. Dies hängt immer auch von der Entwicklung des Kindes ab. Legen Sie Spielzeiten, -inhalte und -dauer gemeinsam fest. Das führt zu mehr Akzeptanz und Einhaltung. Ausnahmen während den Ferien sollten möglich sein. Treffen Sie eine Vereinbarung, dass nach einer intensiven Spielwoche die Woche darauf Konsum stark reduziert wird. Zudem sollten Sie bedenken, dass es für Ihr Kind schwer nachvollziehbar ist, wenn es kritisiert wird, während Sie selbst oft vor einem Bildschirm sitzen. Zögern Sie nicht, Unterstützung zu suchen.
Quelle: Pro Juventute