Ex-SBB-Verwaltungsrat strandet auf dem Weg ans Meer zweimal in Chiasso und sagt: «Da ist doch der Wurm drin»
Unter dem Titel «Es fährt kein Zug nach irgendwo», berichtete die AZ letzte Woche über den desolaten Zustand der internationalen Bahnverbindungen in diesem Sommer. Vor allem die Züge von und nach Deutschland – in den mit Abstand wichtigsten Auslandsmarkt der SBB – verkehrten so unzuverlässig, dass von einem geordneten Betrieb nicht die Rede sein könne, so das Fazit.
Die Probleme in Richtung Deutschland sind die grössten, aber nicht die einzigen. Ausgerechnet in den Sommerferien hat es die Bahn fertiggebracht, die direkten TGV-Züge von Zürich nach Paris einzustellen.
Zuverlässiger, so ein Lichtblick im Report, funktioniere der internationale Bahnbetrieb zwischen der Schweiz und Italien.
Das erlebt der Aargauer alt Regierungsrat Silvio Bircher allerdings ganz anders. Der 76-Jährige meldete sich bei der AZ und schildert, wie ihn und seine Ehefrau Beatrice gleich zwei Bahnfahrten nach Italien innerhalb nur eines Jahres viel Nerven gekostet hatten.
«Es war der Sonntag, 26. September 2021, wir waren unterwegs ab Zürich Hauptbahnhof um 8.33 Uhr Richtung Italien», beginnt Bircher zu erzählen, «als kurz vor Chiasso ein italienischer Trenitalia-Mitarbeiter mit schiefer Mütze auf dem Kopf von allen Zugreisenden die ‹Selbsterklärung für die Einreise nach Italien› einzog.» Das war damals Vorschrift in der Pandemie.
Der Uniformierte habe dies leger gemacht und nicht einmal aufs Blatt geschaut, um zu prüfen, ob alles ausgefüllt sei, erinnert sich Bircher. Er ging in den nächsten Wagen weiter, doch bald sei der Trenitalia-Mitarbeiter wieder in ihrem Zugsabteil erschienen. «Sichtlich nervös hat er alle Leute gemustert und ist wieder verschwunden.»
Dann plötzlich die Durchsage: Der Zug sei technisch nicht mehr in der Lage, nach Mailand weiterzufahren, und wir hätten sofort unsere reservierten Plätze zu verlassen. Auf Perron 4 in Chiasso fahre in drei Minuten der normale Personenzug nach Mailand, wer diesen nicht erwische, habe eine Stunde später das nächste Angebot.
Ärgerlich, aber das kann einmal passieren. Nun, Silvio Bircher und seiner Frau Beatrice passierte es beim nächsten Versuch gleich nochmals. Vor fünf Wochen, am 19. Juni 2022, war auf dem Weg ans Meer in Chiasso schon wieder Endstation für die Birchers im Zug aus Zürich, mit Abfahrt um 8.33 Uhr. Bircher ärgert sich:
«Natürlich stellte ich mir die Frage, wie oft denn solche Ausfälle zu verzeichnen gewesen sind, wenn unsere einzigen zwei Fahrten innerhalb von acht Monaten in einer derartigen Misere endeten.»
Sie hätten sich auch gefragt, welche Ersatzfahrten von allen betroffenen Italien-Reisenden statt der reservierten 1.-Klasse-Wagen arrangiert werden konnten, und mit welchen Verspätungen alle zu kämpfen hätten.
«Wir jedenfalls freuten uns beide Male auf ein Nachmittagsbad im ligurischen Meer, das aber wie auch das vorreservierte Abendessen im Hotel buchstäblich ins Wasser fiel.»
Silvio Bircher, von 1992 bis 1998 Regierungsrat und 1979 bis 1993 Nationalrat, kennt die Bahn nicht nur als Reisender sehr gut. Er war auch Verkehrspolitiker und hatte als früherer Verwaltungsrat der SBB spezielle Einsicht in die Vorgänge des Bahnunternehmens. Diese Zustände mit den Auslandzügen seien schädlich für das Image der SBB, sagt Bircher. «Irgendwo sitzt doch der Wurm drin!»
Die Schlussfrage stellt sich Silvio Bircher gleich selber und lässt sie offen: «Sollen wir ein drittes Mal eine Zugfahrt per Direktzug in Richtung Mailand und Genua buchen?»