Baustellen und Passagierrekorde nach der Pandemie sorgen für einen Stresstest: So wollen die SBB ihre Pünktlichkeit halten
Am Zürcher Hauptbahnhof fährt die S11 nach Aarau 1 Minute und 45 Sekunden verspätet los – geplant gewesen wäre die Abfahrt um 8:56 Uhr. Seit April sieht der Lokführer auf einem Blick diese sekundengenaue Verspätung auf seiner Anzeige im Führerstand. An diesem Mittwochmorgen, als die SBB diese Neuerung vorstellen, wirkt der Lokführer trotz Verspätung entspannt. Er weiss: Er kann die Zeit wieder aufholen, indem er auf den nächsten Streckenabschnitten etwas schneller als die vom System als ideal berechnete Geschwindigkeit fährt. Tatsächlich trifft die S11 in Aarau pünktlich ein.
Im Führerstand überblickt der Lokführer eine Vielzahl an Anzeigen. Er sieht etwa, wie viel die Maximalgeschwindigkeit auf einem Streckenabschnitt beträgt. In einer weiteren Spalte wird angezeigt, welche optimale Geschwindigkeit ein Algorithmus für die Strecke errechnet hat. Ist der Zug pünktlich unterwegs, sorgt diese optimale Geschwindigkeit dafür, dass der Zug weiterhin zur richtigen Zeit ankommt– ohne auf der Fahrt zu stark bremsen oder beschleunigen zu müssen. Das spart Energie. Wenn alle Züge in dieser optimalen Geschwindigkeit «im Fluss» fahren, müssen die SBB weniger Strom ins Netz einspeisen – und sparen auch Geld.
Herausforderungen für die Pünktlichkeit
Seit zwei Monaten wird unten rechts auf der Anzeige sekundengenau die aktuelle Verspätung angezeigt. So kann der Lokführer reagieren und aufholen. Bisher mussten sich die Lokführer diese Zahl aus den anderen Angaben selber ausrechnen. Erfahrene Berufsleute fuhren damit gut. Sie hatten ein Gespür dafür entwickelt, auf welchen Streckenabschnitten sie etwas Zeit gewinnen konnten. Die neue Pünktlichkeitsanzeige hilft deshalb vor allem dem weniger erfahrenen Personal: Es sieht die Verspätung nun auf einen Blick. Gemäss den SBB hat die Funktion bereits zu ersten Verbesserungen bei der Pünktlichkeit geführt.
Trotzdem werden solche technischen Lösungen die Pünktlichkeit der SBB-Züge wohl nicht um mehrere Prozentpunkte verbessern können. Zu komplex und ausgelastet ist das Schienennetz. Im Vordergrund steht deshalb, die aktuellen Werte halten zu können. Derzeit kommen 92,5 Prozent der SBB-Züge pünktlich an, wobei eine Abweichung von drei Minuten noch als pünktlich gilt.
Diese vergleichsweise hohe Pünktlichkeit wird in den nächsten Jahren einem Stresstest ausgesetzt: Die Verkehrsunternehmen planen mit vielen grossen Baustellen. Ein Beispiel dafür ist der Doppelspurausbau im St.Galler Rheintal. Ein Streckenabschnitt ist dort noch bis im Herbst gesperrt.
Rekord bei Schulklassen
Gleichzeitig übertrifft die Nachfrage wieder das Niveau vor der Pandemie. «Seit Mai haben wir erstmals wieder mehr Reisende befördert als vor dem pandemiebedingten Einbruch», sagt SBB-Sprecher Reto Schärli auf Anfrage. Bei den Gruppenreisen verzeichnet die Bahn gar einen Passagierrekord. «Der Monat Juni ist der beliebteste für Schulreisen. Am 20. Juni war der bisherige Rekordtag dieses Jahres mit 2100 Schulklassen und 60’000 Schülerinnen und Schülern. Insgesamt erwarten wir im Juni 22’000 Schulklassen.»
Je mehr Menschen im Zug unterwegs sind, desto länger dauert das Ein- und Aussteigen. Umso grösser ist das Risiko für Verspätungen. Das zeigte sich während der Pandemie: Die SBB vermeldeten im Jahr 2020 eine ausgezeichnete Pünktlichkeit, weil Baustellen besser geplant werden konnten und massiv weniger Menschen unterwegs waren.
Die neue Pünktlichkeitsanzeige ist ein Eigengewächs. Die SBB haben es selbst entwickelt und ein Jahr lang getestet. Die Kosten von 400’000 Franken sollen durch Energieeinsparungen in einem halben Jahr wieder reingefahren werden.