Vom Pionier zur Legende: Der ewige Heinz Frei
Den Sommer 2004 vergisst in Griechenland niemand mehr. Die Fussballer krönen sich zum Europameister. Und in Athen finden die Olympischen und Paralympischen Spiele statt. Für Heinz Frei sind es wegweisende Tage. Erstmals in seiner Karriere kehrt er ohne eine Olympia-Medaille zurück. Er fragt sich: «Lohnt sich der ganze Aufwand noch? Habe ich den Anschluss an die Weltspitze verloren?» Der Rücktritt steht im Raum.
19 Jahre ist das her. Aber zurückgetreten ist Heinz Frei noch immer nicht. In Glasgow bestreitet er heute und am Freitag, 65-jährig, seine nächsten WM-Rennen. Die Lust am Sport ist ungebrochen. 43 Jahre nach seinen ersten Wettkämpfen. Nach 35 Paralympischen Medaillen, 14 Weltmeistertitel und 112 Marathonsiegen. Was treibt diesen Mann an, der den Parasport so sehr prägte wie kein anderer?
Manchmal beschleicht ihn das schlechte Gewissen
Heinz Frei sitzt mit seiner Frau Rita gerade im Auto, auf dem Weg an den Wettkampfort Dumfries in den Southern Uplands von Schottland, als er mit CH Media über seine ungebrochene Leidenschaft spricht. «Ich trage das Sport-Gen einfach in mir drin», beginnt er. «Und ich will, dass sich die nachfolgende Generation sagt: Doch, es lohnt sich, Zeit in den Sport zu investieren! Es lohnt sich, für etwas so richtig zu brennen. Ich merke aber auch, dass ich noch immer dazu beitragen kann, den Parasport zu pushen. Das spornt mich an.»
Die Ziele an dieser WM? Ziemlich selbstlos. Frei geht an den Start, um so viele Quotenplatzpunkte wie möglich für die Paralympics 2024 in Paris zu sammeln. «Das ist wichtig für die Berechnung der Anzahl der Startplätze in Paris», erzählt er, «die Hoffnung ist natürlich, dass durch meine Punkte ein Athlet mehr aus der Schweiz an Olympia teilnehmen kann.»
Frei selbst hegt keine Ambitionen mehr auf Paris 2024. «Ich hatte eigentlich schon in Tokio ein schlechtes Gewissen, einem Jungen einen Startplatz wegzunehmen. Aber ich konnte es ja dann mit der Silbermedaille rechtfertigen», sagt er und lacht. Das Strassenrennen in Tokio bezeichnete Frei im Nachgang als emotionalen Höhepunkt seiner Karriere. «In diesem Rennen habe ich nochmals alles ausgereizt und konnte mich gewissermassen von diesem Niveau verabschieden.»
Der verhängnisvolle Berglauf von 1978
Dass es überhaupt so weit kommt, ist mit einem verhängnisvollen Berglauf im Jahr 1978 verbunden. Der damals 20-Jährige kommt auf nassem Untergrund zu Fall und rutscht einen Abhang hinunter. Die niederschmetternde Diagnose: Querschnittlähmung. «Es war ein grosser Schock, ich fand mich in einer Orientierungslosigkeit wieder und stellte mir teilweise auch die Sinnfrage. Ich war 20 und wollte Perspektiven im Leben.»
Bald aber lässt sich Frei auf das neue Leben ein, akzeptiert den Rollstuhl. «Ich habe den Entschluss gefasst: Ich will und muss das Beste aus den noch vorhandenen Möglichkeiten machen.» Frei weiss zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was das sein wird. Er begibt sich auf eine Entdeckungsreise. Als wegweisenden Moment in diesem Prozess bezeichnet Frei den Entscheid, sich einem Rollstuhlverein in Kriens anzuschliessen. Zwei Jahre nach dem Unfall trifft er dort auf Leute, welche schon länger im Rollstuhl sind. «Dieser Schritt war alles andere als einfach für mich, aber er half enorm.» Frei bekommt viele Tricks und Tipps aus dem Alltag. Und vor allem nähert er sich wieder seiner grossen Leidenschaft an – dank dem gemeinsamen Sporttreiben. «Der Sport gab mir Lebensqualität und Selbstständigkeit zurück. Ich bekam wieder mehr Boden unter den Rädern.»
Ein wichtiges Auffangbecken ist für Frei sein Umfeld. Familie, Freunde, aber auch sein Arbeitgeber unterstützen ihn. Frei absolvierte eine Lehre als Vermessungszeichner, darf diesen Job auch nach dem Unfall ausüben. «Das gab mir Halt, ich konnte wieder in der Gesellschaft Fuss fassen.»
Als die Karriere beginnt, baut er die Rollstühle selbst
In Kriens fängt Frei mit Kollegen an, selbst Rennrollstühle herzustellen und nimmt mit diesen später an diversen Volksläufen in der Schweiz teil. 1984 kommt es dann zur Paralympics-Premiere, Frei räumt gleich mächtig ab – drei Goldmedaillen nimmt er mit nach Hause. Es ist der Start einer beeindruckenden Karriere.
Jetzt, fast 40 Jahre später, sind die Zeiten längst auch im Parasport andere, das Material Hightech. Inzwischen baut gar der Formel-1-Rennstall Alfa Romeo Sauber Rennrollstühle für die Spitzenathleten.
Heinz Frei hat die Entwicklung aus nächster Nähe miterlebt. Dass die Zielgerade der Karriere irgendwann selbst bei ihm naht, ist ihm bewusst. Entsprechend geniesst er jeden WM-Tag besonders. Wenn er dann, wie kürzlich als Redner bei einer 1.-August-Feier als «Mutmacher» vorgestellt wird und die Bewunderung vieler Leute spürt, dann weiss er: Es hat sich gelohnt, nicht schon im Sommer 2004 zurückzutreten.