Bettina Isenschmid im ZT-Talk: «Junge Menschen sind heute 24 Stunden am Tag sozialen Vergleichen ausgesetzt – das macht sie regelrecht kaputt»
Die Kinder- und Jugendpsychiatrien in der Schweiz sind übervoll, Notfallstationen melden Rekord-Zahlen. Bei der «Dargebotenen Hand» haben Anrufe von Jugendlichen, die unter psychischen Problemen leiden, massiv zugenommen. Ähnliches berichtet Dr. med. Bettina Isenschmid, die Leiterin des Kompetenzzentrums für Essstörungen, Adipositas und Psyche (KEA) am Spital Zofingen. Sie stellt eine «Flut von Neuzuweisungen» bei jugendlichen Patienten fest.
«Typisch sind Ängste und Depressionen. Die Jugendzeit ist für das Auftreten von Depressionen eine verletzliche Zeit. Die Identität festigt sich; man ist für verunsichernde Situationen erhöht anfällig. Die Pandemie ist eine besonders verunsichernde Situation. Aber auch ohne Pandemie haben viele Jugendliche Schwierigkeiten mit ihrer seelischen Gesundheit.»
Die Pandemie habe wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. «Jugendliche konnten nicht mehr in die Schule, konnten nicht mehr zu Vorstellungsgesprächen für Lehrstellen. Sie konnten keine Praktika mehr machen, sie sahen ihre Kolleginnen und Kollegen nicht mehr.» Partys und Ausgang waren gestrichen. «Alles Dinge, die in dieser wichtigen Entwicklungsphase besonders wichtig sind.» Stattessen seien sie zuhause quasi eingesperrt gewesen – «unter Aufsicht». Das sei zwar sicher meistens gut gemeint gewesen. «Aber gerade in der Jugendzeit ist es wichtig, dass man sich zurückziehen kann – und zwar nicht nur ins eigene Zimmer.» Distanz zu schaffen zwischen den Eltern und den Geschwistern sei für Heranwachsende wichtig – «das war in den letzten beiden Jahren gar nicht mehr richtig möglich.»
Hinzu kommt der unselige Druck durch die sozialen Medien. «24 Stunden am Tag sind heute junge Menschen sozialen Vergleichen ausgesetzt. Auch dem Drang, ständig in den sozialen Medien zu sein. Das haben wir schon vor der Pandemie gekannt, schon davor wirkte es sich sehr ungut auf die Entwicklung des Körperbewusstseins und des Essverhaltens aus.» In der Pandemie hat sich das verschärft: «Durch die Unmöglichkeit, sich in der realen Welt zu treffen, hat das virtuelle Vergleichen in den sozialen Medien noch einmal eine ungeheure Beschleunigung erfahren.»
Die Folge ist oft schiere Frustration. «Junge Frauen, aber auch junge Männer, berichten zunehmend davon, wie es sie frustriert und beelendet, wenn sie Bilder von so perfekten Körpern sehen in den sozialen Medien», so Isenschmid. «Das macht sie regelrecht kaputt. Sie versuchen alles, um diesen Körpern nachzueifern. Ab einem bestimmten Grad ist das mit gesundem Verhalten gar nicht mehr möglich.» Auch für junge Männer kann das verheerend sein. «Bei ihnen muss die perfekt definierte Muskulatur verglichen werden. Sogar schon bei Buben, die von ihrer biologischen Reife gar nicht so weit sind, dass sie Muskelberge entwickeln könnten.»
Wie kann das Umfeld auf Signale reagieren – beispielsweise, wenn sich Jugendliche immer mehr zurückziehen? «Häufig zieht sich das Umfeld ebenfalls zurück und man sagt lieber nichts», sagt die Chefärztin. Das sei der falsche Weg: Man sollte immer wieder auf Betroffene zugehen und nach ihrem Befinden fragen. Aus ihrem Berufsalltag weiss Isenschmid, dass fast immer die Eltern oder das Umfeld Jugendliche dazu bringen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. «Es ist von unschätzbarem Wert, dass man Jugendliche aktiv anspricht.»
Expertin für psychische Erkrankungen
Bettina Isenschmid ist Fachärztin für Psychatrie und Psychotherapie. Sie war als Assistenzärztin an verschiedenen Kliniken in den Kantonen Bern, Solothurn und Luzern sowie in England tätig. Darauf arbeitete sie als Oberärztin in verschiedenen Funktionen am Inselspital Bern. Bettina Isenschmid gilt als Koryphäe auf dem Gebiet der Essstörungen. Seit 2009 ist sie Chefärztin des Kompetenzzentrums für Essverhalten, Adipositas und Psyche (KEA) am Spital Zofingen.