Einem 81-Jährigen «lüpft es den Deckel», als er zum ersten Mal einen Strafbefehl erhält
Eigentlich wollte Heinz (Name geändert) nur herrenlose Velos entsorgen – und dann landete er mit 81 Jahren zum ersten Mal vor Gericht: «Ich kenne den Inhalt des Strafbefehls, deshalb habe ich ja Einsprache erhoben», antwortet er dort sichtlich aufgebracht auf eine Frage von Gerichtspräsident Christian Märki.
Vierzig Jahre lang besass Heinz seine eigene Firma und ist dort auch heute noch in der Finanzbuchhaltung tätig. Zudem verwaltet er zwölf Liegenschaften in der ganzen Schweiz. Eine davon befindet sich im Wynental, wo er selbst wohnt. Dort soll Heinz laut Strafbefehl ein E-Bike aus der Tiefgarage genommen und für 70 Franken an einen Händler verkauft haben. Der Velobesitzer hat Anzeige erstattet – und der Fall nahm seinen Lauf.
Als Heinz den Strafbefehl erhielt, mit dem er wegen unrechtmässiger Aneignung zu einer Busse von 300 Franken verurteilt werden sollte, habe es ihm «den Deckel gelüpft», sagt der Senior vor Gericht. Laut eigenen Aussagen habe er alle Mieter per Zettel im Briefkasten gefragt, wem die zwei Fahrräder gehören, die in der Tiefgarage am Boden lagen. Wenn sich innert Monatsfrist niemand melden würde, entsorge er die Velos. Es habe sich niemand gemeldet.
«Ich habe es doch nicht nötig, mich mit so Seich zu bereichern»
Anschliessend entsorgte Heinz die Fahrräder, indem er sie einem Velohändler verkaufte. Heinz verlangte noch 150 Franken für beide. Doch der Händler meinte, weil er nur noch einzelne Veloteile gebrauchen könnte, würde er nur 70 Franken zahlen. Ausserdem würde Heinz das Entsorgen des Rests 50 Franken kosten. Heinz willigte ein und verzichtete auf die Auszahlung der 20 Franken Erlös: «Damit kannst du noch ein, zwei Bierchen trinken gehen», habe er zum Velohändler gesagt.
Immer wieder betont Heinz vor Gericht, er habe die Finanzbuchhaltung seiner Firma stets sehr vorbildlich geführt: «Ich habe es doch nicht nötig, mich mit so Seich zu bereichern», sagt er, «für mich ist das eine stümperhafte Sache von der Staatsanwaltschaft».
Tatsache ist jedoch auch, dass der Mieter und Kläger nun wegen Heinz’ Entsorgungsaktion kein Fahrrad mehr hat. Er habe nie einen entsprechenden Zettel im Briefkasten gehabt und sei mit diesem Rad immer zur Arbeit gefahren: «Ich war erstarrt, als es plötzlich nicht mehr da war», sagt er vor Gericht. Deshalb habe er Heinz angezeigt. Mittlerweile hat die Versicherung das Velo bezahlt.
Der Aufwand wäre vermeidbar gewesen
Das Bezirksgericht Kulm sprach Heinz am Ende vom Vorwurf der unrechtmässigen Aneignung frei. Es habe keine Absicht bestanden, sich mit dem Velo des Klägers bereichern zu wollen, zumal Heinz’ Aussage, dass er auf die 20 Franken Erlös verzichtete, gemäss Gerichtspräsident Märki «glaubhaft erscheint».
Das heisst nicht, dass Heinz korrekt gehandelt hat. Aber: Laut herrschender Rechtslehre, auf die sich der Gerichtspräsident im Urteil bezieht, besteht bei der Absicht zur Entsorgung kein Aneignungswille, der angeklagte Straftatbestand fällt also weg.
Weil jedoch die Staatsanwaltschaft Heinz nur wegen unrechtmässiger Aneignung angeklagt hat – und nicht etwa wegen anderen Straftatbeständen wie beispielsweise Sachbeschädigung ist ein Schuldspruch aufgrund des Anklageprinzips nicht möglich.
Zum Schluss rät Märki aber, beim nächsten Problem ein «direktes, nachbarschaftliches Gespräch» untereinander zu suchen, um diesen Aufwand zu vermeiden. Die Gerichtskosten übernimmt die Staatskasse. Zum Schluss ringt sich der Kläger noch durch und stimmt Märki zu: «Ich wollte nur eine Entschuldigung, keinen Gerichtsprozess.»