Als Kind wurde er selbst missbraucht und misshandelt: Angeklagter besass mehr als 30’000 Tier- und Kinderpornos
«Ich bin kein Pädophiler. Das ist mir sehr wichtig», sagte Roger (Name geändert) vor dem Gesamtgericht des Bezirksgerichts Kulm. Dieses entschied nach einer Befragung, ob der Fall des 61-Jährigen im abgekürzten Verfahren abgehandelt werden kann. Roger hat sich bereits schuldig bekannt.
Er hatte mehr als 31000 Fotos und über 2000 Videos mit Tier- und Kinderpornografie in seinem Besitz. Die Anklagepunkte beinhalten den Konsum, die Beschaffung und das Zugänglichmachen der Inhalte. Die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung einigten sich im Vorfeld auf eine bedingte Freiheitsstrafe von 20 Monaten und eine Probezeit von vier Jahren sowie eine Verbindungsbusse von 8000 Franken.
Das Gesamtgericht sah die Situation jedoch nicht ganz so, wie die anderen beiden Parteien. Nach halbstündiger Beratung wies das Gericht unter Vorsitz von Gerichtspräsidentin Yvonne Thöny Fäs den Fall zurück an die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm.
Es wird also zu einer normalen Verhandlung kommen. Bei der Verkündung schaute Roger erstmals hilfesuchend zu seinem Rechtsanwalt. Zuvor sass der Beschuldigte während eines Grossteils der Anhörung und mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl, wirkte abgeklärt. «Das wäre vor ein paar Jahren so nicht möglich gewesen», sagt Roger zu Thöny. Wegen Kindheitstraumata habe er lange an Panikattacken und Depression gelitten.
Der Konsum sollte als Schocktherapie dienen
Als Kind wurde er eigenen Angaben zufolge missbraucht und schwer misshandelt. Zuerst von seinem Stiefvater, dann im Kinderheim. «Es war die Hölle», erinnert er sich. Trotzdem schloss er eine Ausbildung ab und gründete eine Familie.
Als er 50 Jahre alt war, holte ihn seine Vergangenheit ein. «Ich erfuhr, dass ich das Ergebnis einer Vergewaltigung war, dass ich Halbschwestern habe und dass mein leiblicher Vater eine davon geschwängert hat.» Das machte ihm psychisch sehr zu schaffen. Innert weniger Jahre erlitt er zwei Herzinfarkte. «Ich war am Boden», sagt er. Ausgerechnet in einer Art Online-Selbsthilfegruppe sei er auf Kinderpornografie gestossen. «Jemand sagte mir, ich müsse meine Kindheitstraumata noch einmal erleben und sie so konfrontieren», so Roger – eine Art Schocktherapie.
In den Videos habe er sich nie als Täter, sondern als Opfer gesehen. «Ich würde so etwas nie im realen Leben wollen, ich bin nicht pädophil», hält er mehrmals fest. Gerichtspräsidentin Thöny antwortete:
«Ihnen ist aber bewusst, dass das in den Videos auch reale Kinder sind?»
Rogers Psychiater habe ihm während der letzten Monate dabei geholfen, seine Traumata zu verarbeiten und Strategien für die Zukunft zu erarbeiten. Zurzeit befinde er sich aber nicht mehr in Behandlung – genau das macht dem Gesamtgericht Sorgen. Roger hingegen ist der Überzeugung, er sei «über dem Berg.»
Das dachte Roger auch schon im Jahr 2000. Damals musste er wegen Kinderpornografie 1000 Franken bezahlen. «Damals hatte er sich noch nicht mit dem Erlebten auseinandergesetzt», sagt Rogers Verteidiger Andreas Keller. Zudem habe er mit seinem Psychiater neu einen Rettungsanker. Für die Mehrheit des Gesamtgerichts war das nicht genug. «Vielleicht sollten Präventionsmassnahmen in Betracht gezogen werden», sagt Thöny bei der Urteilsverkündung. Zudem fehle für eine Strafminderung, wie sie die Verteidigung forderte, ein psychiatrisches Gutachten.
Roger wird seine Sicht der Dinge nun in einer regulären Verhandlung erneut darstellen müssen. Was dann das Strafmass sein wird, steht noch offen.